Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
glaube, ich sollte ihr nicht erlauben, jemals zurückzukommen. Und du, Marcus, wenn du nicht deine traurigen Verhaltensweisen aufgibst, bei deiner Arbeit Fortschritte machst und dich bei den Mahlzeiten ordentlich benimmst, nun, dann werde ich mir vielleicht eine grausame Strafe ausdenken, jedenfalls wird sie dir nicht gefallen. Sieh doch, was du alles hast: diese Felder und Wälder, dein Pony, einen liebenden Vater, hübsche Brüder. Du bist das glücklichste Kind der Welt! Und von nun an wirst du dich bessern, sonst wird es sehr unangenehme Folgen für dich haben.«
Johann hatte erwartet, daß Marcus jetzt einen erschreckten Eindruck machen würde, doch das tut er nicht. Er sieht lediglich zerstreut aus und blickt mit großen Augen auf die sonnenbeschienene Wiese.
»Stirbt Magdalena?« fragt der Knabe.
Laut und ärgerlich antwortet Johann: »Ob sie stirbt? Natürlich nicht! Was für Gedanken in deinem Kopf herumgehen! Jedenfalls keine vernünftigen und guten.«
»Ich wünschte, sie würde sterben«, sagt Marcus.
Johann fühlt jetzt etwas Qualvolles in sich aufsteigen. Er hebt die Hand, um Marcus zu schlagen, doch wird er sich im gleichen Augenblick bewußt, daß sein Sohn ein bemitleidenswertes Wesen ist, eine geisterhafte Seele, die in der eigenen verwirrten Welt dahintreibt, ein Kind ohne Zukunft. Er läßt die Hand wieder sinken, hebt statt dessen Marcus hoch (wie leicht er doch ist, wie klein und schwerelos …!) und nimmt ihn auf den Schoß.
»Ich werde vergessen«, sagt Johann, »daß du jemals so etwas gesagt hast. Doch du mußt dafür Emilia vergessen. Du darfst nie wieder in den Wäldern, am See oder sonstwo nach ihr suchen. Du mußt mir versprechen, daß du nicht mehr herumwanderst. Versprich mir das!«
Als übermanne ihn Müdigkeit, beugt sich Marcus vor und legt seinem Vater das Gesicht auf die Brust. Johann hält ihn fest und wartet, doch das einzige Geräusch, das die Stille auf dem Feld unterbricht, ist das Rascheln eines Vogels im alten, trockenen Laub.
»Versprich es!« wiederholt Johann, doch Marcus rührt sich nicht und sagt kein Wort.
AUS GRÄFIN O’FINGALS TAGEBUCH,
»LA DOLOROSA«
Während ich mich mit den Kindern bei meinem Vater in Bologna aufhielt, schlich sich bei Johnnie O’Fingal die Überzeugung ein, daß allein ich an seiner Pein schuld sei. Seine Argumente waren: Wäre ich meiner Veranlagung nach mutiger und hätte ihn in der Sturmnacht nicht geweckt, nun, dann wäre ja sein Traum von der erhabenen Musik niemals an die Oberfläche seines Bewußtseins gekommen. Also war es meine kindische Schwäche, mein »weibisches Erschrecken angesichts der Größe der Natur«, wie er es ausdrückte, was unsere Tragödie ausgelöst hatte. Ich war ganz und gar und allein verantwortlich, und der Mann, der sich auf den ersten Blick in mich verliebt hatte, konnte mich nun nur noch voller Haß anblicken und in sich kaum den ständigen Wunsch unterdrücken, mir Schaden zuzufügen.
Das Virginal war abgeschlossen und weggeräumt worden, weil Johnnie O’Fingal seinen Bemühungen, die verlorene Melodie wiederzufinden, abgeschworen hatte, indem er erklärte, sie sei »fern aller Reichweite seines Kopfes und Herzens«. Gleichzeitig mit diesem Verzicht verfügte er, daß künftig überhaupt niemand mehr im Haus musizieren durfte, nicht einmal die Kinder. Nie wieder würde es Konzerte oder andere musikalische Darbietungen auf Cloyne geben. »Es wird Stille herrschen!« donnerte er.
Und so herrschte nun Stille. Die Kinder und ich führten unser Leben fort – unseren Unterricht, unsere Freizeitbeschäftigungen, Spaziergänge, Mahlzeiten, das Lesen und die Gebete –, doch taten wir alles so leise wie möglich, und es gelang uns überhaupt nicht, Johnnie darin einzuschließen, so daß es im Monat nach unserer Rückkehr aus Bologna sogar zu einer Trennung zwischen uns auf der einen Seite und ihm auf der anderen kam.
Niemals kam er in die Nähe meines Bettes, sondern wohnte in einem entfernten Zimmer mit Blick auf die Berge von Cloyne im Norden. Nie suchte er das Schulzimmer der Kinder auf. Er sprach bei den Mahlzeiten nicht mit ihnen und nahm sie auch nicht mit zu einem Picknick oder zu einem kleinen Ausflug. Am Tag saß er entweder in seinem Arbeitszimmer am Feuer und blickte hinein, oder aber er lief ganz allein, oft ohne Mantel und Hut, stundenlang auf seinem Gut herum, bis er müde wurde und wieder schlief.
Wenn ihn seine Pächter und Bauern so herumlaufen sahen, mit wildem, zerstreutem Blick,
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