Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Moment, in dem ich in seinen umwölkten Augen plötzlich Hoffnung aufkeimen sah. Sie zitterte in ihnen. Ich strich ihn über den erschöpften Kopf und legte ihm seine Hände liebevoll übereinander in seinen Schoß. Dann setzte ich mich neben ihn, und wir warteten, bis Peter Claire in den Raum trat, sich vor uns verbeugte, sein Instrument nachstimmte und dann zu spielen begann.
Ich weiß nicht mehr, welches Stück er spielte. Es war jedenfalls von großer Lieblichkeit, wobei es uns zweifellos durch die Ruhe und Einsamkeit, in der wir so lange gelebt hatten, noch lieblicher erschien. Johnnie ließ Peter Claire während des ganzen Liedes nicht aus den Augen, offenbar völlig gefesselt vom Anblick seiner Hände, die der Laute dieses Tonmuster entlockten, für das es in der Natur nichts Entsprechendes, kein Modell gibt und nach dessen wahrem Verständnis der junge Lautenspieler, wie er mir erzählt hatte, noch immer suchte.
Nach dem Vorspielen saß Johnnie ganz still da. Ich sah Tränen in seinen Augen. Er wischte sich diese nicht weg, sondern ließ sie sich über die Wangen laufen.
Am nächsten Tag begannen die beiden Männer mit der Arbeit.
Ich versammelte die Kinder um mich und ließ den Ponywagen kommen. Dann unternahm ich im Aprilsonnenschein mit Maria, Vincenzo, Luca und Giulietta einen Ausflug durch unsere Ländereien, um den Leuten von meiner Hoffnung zu erzählen, daß ihre und unsere Leiden bald ein Ende nehmen würden.
Wie immer empfingen uns die Pächter freundlich, doch ich wußte, daß sich hinter dieser Freundlichkeit berechtigter Zorn verbarg, denn das Elend, das wir an diesem Tag auf den Bauernhöfen und in den Behausungen sahen, war für mich und die Kinder so klar erkennbar, daß wir die Rundfahrt aus Feigheit und Furcht abbrachen und statt dessen zum Fluß fuhren und das einfache Picknick verzehrten, das ich für uns mitgenommen hatte. Wir blieben dort bis zum Abend, spielten mit Stöcken und Steinen, erzählten uns Geschichten und beobachteten die Moorhühner beim Bau ihrer Nester, die Wasserhühner beim Tauchen nach Fischen und das Ausschlüpfen der ersten Mücken und Fliegen des Sommers unter den Sonnenstrahlen.
Als es dunkel wurde, kehrten wir zurück. Wir schlichen ins Haus und lauschten auf den einen Klang, den wir so sehnsüchtig hören wollten: eine Weise von solcher Einmaligkeit und Magie, daß wir in ihr die göttliche Komposition aus Johnnies Traum erkennen würden. Doch im Haus war es still wie im Grab. Wir standen in der Halle und wagten nicht, irgendwohin zu gehen, um nicht den zarten Augenblick der Stille vor einer großen Erscheinung zu stören. »Mama«, flüsterte Giulietta, »vielleicht ist Papas verlorene Musik ja von einer Art, daß sie niemand hören kann?«
Ich strich ihr übers Haar. »Vielleicht, meine Liebe«, sagte ich, »daran habe ich noch gar nicht gedacht.«
In diesem Augenblick hörten wir, wie die Bibliothekstür geöffnet wurde. Giulietta legte ihre Hand in meine. Johnnie O’Fingal schritt in die Halle. Als er uns dort vorfand, blieb er einen Augenblick stehen und starrte uns an – als wären wir unerwartete Besucher –, dann eilte er an uns vorbei und die Treppe hinauf. Wir vernahmen, wie er die Tür seines Zimmers öffnete und wieder hinter sich schloß.
Peter Claire erzählte mir, daß der Morgen ganz gut verlaufen sei. Er hatte versucht, für die wenigen Takte der Melodie, an die sich Johnnie erinnern und die er ihm vorspielen konnte, in seinem Herzen die Fortsetzung zu hören, die mit dem Anfang im Einklang stand. Er kam schließlich auf drei davon. Er schrieb die Noten dafür nieder und spielte sie sowohl auf dem Virginal als auch auf der Laute. Johnnie hörte aufmerksam zu. Er wußte, daß keine dem entsprach, was er gehört hatte, verwarf sie aber nicht sofort. Ihm war klar, daß allein schon die Tatsache wichtig war, daß es eine Fortsetzung geben könnte, und ließ den Lautenisten daher eine Weile experimentieren.
Am Nachmittag wurde er dann immer ungeduldiger. Er erklärte, alle Fortsetzungen seien »so kalt wie der Mond, verglichen mit der Sonne, die ich in meiner Seele hatte«, und weigerte sich, sie sich weiter anzuhören. Er ging in der Bibliothek auf und ab, riß Bücher aus den Regalen und warf sie auf den Boden. Dann öffnete er das Fenster und stieß einen Klagelaut aus in den schönen Nachmittag hinein.
Peter Claire bekam es allmählich mit der Angst zu tun.
Er fing noch einmal von vorn an – es war die vierte Fortsetzung.
Weitere Kostenlose Bücher