Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
jemanden in und um Norfolk«. Als James Claire seinen Segen für die Verbindung gab, warf sie ihm die Arme um den Hals und behauptete, sie sei »das glücklichste Mädchen Englands«. Dabei waren ihre Wangen zart gerötet, und ihre Augen glänzten. George Middleton wirbelte sie lachend in seinen Armen herum.
Die Hochzeit soll im Herbst stattfinden. Anne ist schon dabei, eine Menge Listen anzulegen. Beide Frauen werden sich nun von früh bis spät Gedanken über die Hochzeit machen. Und James Claire freut sich mit ihnen, mißgönnt ihnen nicht eine Sekunde ihrer Freude. Doch in seinem Innern fühlt er sich, als er jetzt zur Kirche geht, so elend, daß er fast stolpert.
Er hat in seine Zukunft gesehen.
Er hat die ohne Charlotte leeren Morgen gesehen. Er hat die Nachmittage in ungewohnter Stille vergehen sehen. Er hat seine beim Abendgottesdienst versammelte Gemeinde gesehen und nach dem Gesicht seiner Tochter gesucht, obwohl er weiß, daß sie nicht da ist. Er hat sich aus Trauer um seine das Haus verlassenden Kinder alt werden sehen.
Solange Charlotte da war, gab es noch etwas Ablenkung, einen Ausgleich für Peters Abwesenheit. Manchmal hat James Claire grausame Träume, in denen sein Sohn bei einem Unwetter verschwunden, in der eisigen Nordsee ertrunken oder aber einfach einer kalten Vergeßlichkeit anheimgefallen ist, die alle Erinnerung an England und sein früheres Zuhause stillschweigend aus seinem Kopf sickern läßt.
Mit seiner Tochter an der Seite, die ihm immer wieder ins Gedächtnis ruft, daß Peters Liebe zur Musik stets über den Wunsch seines Vaters, in seine Fußstapfen zu treten und Pfarrer zu werden, triumphiert hat und dies auch weiterhin tun wird, konnte Claire dessen Abwesenheit ertragen. Nur jetzt, da es gewiß ist, daß Charlotte im nächsten Winter nicht mehr seinem Haushalt angehören wird, erscheint ihm Peters Verlust, von dem ihm niemand sagen kann, für wie lange er ist, unerträglich.
Er und Anne werden mit den Hühnern, dem Apfelgarten und ihren täglichen Gebeten allein sein. Charlotte und George Middleton werden sie gelegentlich von Norfolk aus besuchen, doch die Zeit der Familie ist vorbei. Vor langer Zeit, noch vor der Geburt Peters und Charlottes, beweinte James Claire einmal ein Kind, das nur einen einzigen Tag gelebt hatte und klaglos gestorben war, als es Nacht wurde. Und nun kann er sich, obwohl er spürt, daß sein Elend selbstsüchtig und ungerechtfertigt ist, nicht von dem Gedanken befreien, daß zum zweitenmal eine dramatische Dunkelheit hereinbricht.
Anne und Charlotte haben das Brot gebacken und Butter und Marmelade auf den Tisch gestellt. Nun warten sie auf James Claires Rückkehr vom Kai. Sie haben Hunger, und ihr Dienstmädchen Bessie steht brav neben dem Ofen, um die Eier zu pochieren. Doch sie nehmen von ihrem Hunger und der dahinfliegenden Zeit kaum Notiz, da sie jetzt am Sekretär sitzen und das wundervolle Wort Aussteuerliste auf ein leeres Blatt Papier schreiben.
»Mutter«, sagt Charlotte, »wie du weißt, müssen wir, wenn wir hiermit fertig sind, Peter einen Brief schreiben, in dem wir ihm mitteilen, daß ich Mrs. George Middleton werde.«
»Ja, richtig!« sagt Anne Claire. »Ich frage mich, ob er frei bekommt, um nach Hause fahren zu können. Es wäre für uns alle, besonders aber deinen Vater, eine große Freude, wenn er auf der Hochzeit spielen würde.«
»Hoffentlich mag er George«, erwidert Charlotte. »Dann stehen sich die beiden auch einmal Auge in Auge gegenüber.«
»Auge in Auge!« bemerkt Anne. »Eine merkwürdige Wortwahl, meine Liebste. Weißt du nicht mehr, daß Peters Augen in all ihrer Bläue immer einen anderen Ort widerzuspiegeln schienen, wohin man ihm nur schwerlich folgen konnte?«
Charlotte denkt einen Augenblick nach und stellt sich vor, wie ihr Bruder, den sie immer voller Ingrimm um seine Schönheit beneidet hat, am Fenster steht, ihm die Sonne aufs Haar scheint und er ihr erzählt, daß er nach Irland geht. Sie denkt daran, wie er später zurückkehrte und verkündete, seine Zeit in Irland sei vorbei und er reise nun nach Dänemark, um im Königlichen Orchester zu spielen.
Anfangs hatte sie sich gefreut, dann hatte es ihr leid getan, weil sie ihn vermißte. Noch später, als sie Mr. George Middleton kennengelernt hatte, war ihr Peters Abwesenheit gleichgültig, und jetzt hofft sie nur noch, daß er an ihrem wundervollen Tag zu Hause ist. »Doch!« antwortet sie ihrer Mutter. »Natürlich weiß ich das noch. Es sieht aber
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