Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Emilia mit Bewunderung in ihren grauen Augen an und sagt: »Madam, Ihr seid so freundlich und umsichtig. Wenn ich nur wüßte, wie ich mich revanchieren soll.« Und vor Überraschung ist mir fast zum Weinen zumute.
Mir ist Emilias Gegenwart so angenehm, daß mir ein Gedanke gekommen ist, der mir an jenem unglückseligen Tag, wenn der König aus Norwegen zurückkehrt, von Nutzen sein könnte. Ich habe ihr erzählt, daß ich an gewissen Tagen im Monat von grausamen Ängsten und Qualen heimgesucht werde, so daß ich dann gern eine liebe Person in meiner Nähe habe, mit der ich, wenn mir danach zumute ist, mitternächtliche Unterhaltungen führen kann.
Daher habe ich veranlaßt, wenn ich meine Menses habe und der Graf nicht zu mir kommt, in die Kammer neben meinem Zimmer (durch die alle hindurchmüssen, die zu mir wollen) ein Feldbett zu stellen, so daß Emilia vor meiner Tür schlafen kann. Ich habe ihr gesagt, sie solle niemanden hereinlassen: »Emilia, du mußt mir versprechen, keine einzige Seele in unserem Land – nicht einmal den König, sollte er dies verlangen – in diesen Nächten an dir vorbeizulassen, weil ich mich schrecklich unwohl fühle und es nicht ertragen kann, mich mit irgend jemandem in Dänemark außer dir zu unterhalten.«
Sie kämmt mir dann die Haare und wärmt mir mit einer mit heißem Wasser gefüllten Flasche das Bett, um durch die milde Hitze meine Menstruationsbeschwerden zu lindern. Wenn ich dann sehe, wie liebevoll ihre Arme diese Aufgaben erfüllen, erwacht in mir der Wunsch, diese zu streicheln, ihre Haut, die so zart wie die eines Kindes ist. »Emilia«, sage ich, »hoffentlich wirst du mich niemals verlassen!«
Wenn ich dann in der Nacht voller Entsetzen aufwache, weil mir mein großes Dilemma im Hinblick auf Otto und den König wieder eingefallen ist, schreie ich auf, und Emilia kommt mit einer Kerze, und wir bestellen heiße Milch und Haselnußkuchen, entfachen in meinem Zimmer ein Feuer und ziehen die Vorhänge zu, um die kalte Nachtluft draußen zu halten. Ohne den geringsten Ekel hilft mir Emilia, meine blutigen Lappen zu wechseln. Und dann unterhalten wir uns über die Grausamkeit und Schlechtigkeit der Welt und darüber, daß man selbst in den Korridoren dieses Palastes Schlechtes über mich flüstert.
EIN GEWÖHNLICHER HAUSHALT
Die Heringsflotte läuft aus.
Die Fischerboote segeln in Harwich bei Südwind sanft aufs ruhige Meer hinaus. Ein paar Leute, die Frühaufsteher der kleinen Stadt, stehen am Kai und winken, bis die Schiffe im Morgennebel verschwunden sind.
Die Menschen gehen wieder in ihre Häuser oder zu ihren Arbeitsplätzen, jeder seiner eigenen Aufgabe nach. Als die Sonne höher steigt, die Möwen sich zusammenscharen, kreisen und den Booten folgen und die Kirchturmuhr von St. Benedict the Healer die siebte Stunde schlägt, steht nur noch ein einziger Mann da.
Es ist der Pfarrer James Whittaker Claire. Unbeweglich schaut er aufs Meer hinaus, als wolle er an dieser Stelle all die Stunden bis zur Rückkehr der Heringsflotte warten. Doch er denkt nicht an Heringe. Ihn beschäftigt die Zukunft. Er ist fünfzig Jahre alt und hat graue Haare und einen grauen Bart. Er hat die Nacht schlaflos und niedergeschlagen verbracht, kam bereits eine Weile vor Sonnenaufgang her und steht nun schon eine Stunde lang am Kai, in der Hoffnung, daß die salzige Luft und das Geplänkel der Fischer Balsam für sein aufgewühltes Inneres sind.
Seine Frau Anne und Tochter Charlotte sind zu Hause im Pfarrhaus, und er nimmt an, daß sie ihren morgendlichen Verrichtungen nachgehen, das Brotbacken und Decken des Frühstückstisches beaufsichtigen, nach den Hühnern im Hof rufen und ihnen Korn streuen. Soviel er weiß, sind die beiden Frauen an diesem Februarmorgen glücklich und heiter, und er sehnt sich traurig danach, an dieser Fröhlichkeit teilzuhaben, was ihm aber nicht vergönnt ist. Er reibt sich die Augen, wendet sich von seiner Meeresbetrachtung ab und macht sich auf den Weg zur Kirche.
Am Abend zuvor hatte Charlottes Freier, Mr. George Middleton, Pfarrer Claire einen Besuch abgestattet und um ihre Hand gebeten.
George Middleton ist ein Großgrundbesitzer in Norfolk, nennt das Anwesen Cookham bei Lynn sein eigen und hat ein Einkommen von tausend Pfund im Jahr. Er ist ein lärmender Mann in den Dreißigern mit lautem Lachen und kräftigem Händedruck und eine gute Partie für eine Pfarrerstochter. Aber mehr noch zählt, daß Charlotte erklärt hat, sie liebe ihn »mehr als sonst
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