Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Johnnies Zorn ließ nach. Er saß noch einmal still da und hörte zu. Er hob ein paar Bücher vom Boden auf und stellte sie ins Regal zurück. Er räumte auch ein, daß in der vierten Fortsetzung »eine gewisse Schönheit« liege, und begann sie Note für Note auf dem Virginal wiederzugeben, während sich Peter Claire abmühte, hübsche Harmonien dazu auf der Laute zu finden. Sie arbeiteten bis zum frühen Abend daran, als Johnnie, in dem Augenblick, als ich mit den Kindern vom Fluß zurückkehrte, zu dem Urteil kam, daß diese vierte Fortsetzung bei jedem Spielen erdgebundener und abgedroschener wurde. Er sagte Peter, er solle sie aufgeben. Inzwischen waren beide Männer zum Weitermachen zu müde.
Im Zeitraum eines Monats wurden neunundfünfzig Fortsetzungen begonnen und wieder verworfen. Mit der Zeit konnte Johnnie immer weniger Stunden am Tag arbeiten. Er verließ mitten am Nachmittag die Bibliothek und ging in sein Zimmer, wo er in einen schweren Schlaf fiel, der bis zum nächsten Morgen anhielt.
Und hier begann nun ein neues Kapitel in unserer Geschichte. Wenn die Kinder zu Bett gegangen waren, war ich oft mit dem Lautenspieler allein. Ich lud ihn ein, mit mir zu Abend zu essen. Danach saßen wir zusammen am Kamin, und ich erzählte ihm von meinem Leben in Bologna mit meinem Vater, dem Papierhändler, und er berichtete mir von seiner Kindheit in Harwich und dem Kummer seines Vaters, eines Pfarrers, über die Weigerung seines Sohnes, in seine Fußstapfen zu treten. Ich fühlte mich in Peter Claires Gesellschaft so wohl, daß mir die Stunden wie Augenblicke vorkamen.
Als die Abende heller wurden, machten wir es uns zur Gewohnheit, nach dem Essen in der duftenden Mailuft spazierenzugehen. Wir sahen, wie die Apfel- und Kirschblüten ihr weißes Licht im dahinschwindenden Tag bewahrten. Wir gingen zum Meer hinunter.
Wir unterhielten uns über Johnnie O’Fingals Traum und die schwache Chance, daß dieses Rätsel, das so viel Leid verursacht hatte, je gelöst würde. Ich sagte zu Peter Claire, daß ich mir wünschte, er würde bleiben, ganz gleich, wie weit entfernt die Lösung auch scheinen möge. Ich meinte: »Meine ganze Hoffnung ruht auf Euch.«
Und so kam es, daß wir, als wir über das schwere Schicksal meines Mannes sprachen, während sich die Wellen vor uns brachen und wiederfanden, immer wieder brachen und fanden und die Welt alle Farbe verlor, die Arme umeinanderlegten. Wir standen still da, spürten nur den Herzschlag des anderen und das Aufwallen einer Leidenschaft, von der wir wußten, daß sie allen Gesetzen von Loyalität und rechtmäßigen Gefühlen zuwiderlief und daher niemals ihren letzten Ausdruck finden durfte.
Wir küßten uns nicht einmal. Meine Sehnsucht, Peter Claire (der fünf Jahre jünger als ich war und als Lehrer meines Mannes in meinen Diensten stand) auf seinen vollkommenen Mund zu küssen und von ihm wiedergeküßt zu werden, stand allen anderen Sehnsüchten, die ich in meinen dreißig Jahren auf Erden verspürt hatte, in nichts nach. Dennoch gab ich ihr nicht nach, und Peter zwang mich auch nicht dazu. Es war, als wüßten wir beide, daß unsere Münder mit einem einzigen Kuß die verhängnisvollen Silben des Wortes »Ausgeliefertsein« atmen würden.
»WEIL SIE SO SCHÖN SIND«
Die Explosion von Christians Rakete im Hof des Herredag ging in die Geschichte ein. Danach wagte es der Adel nicht mehr, den ungekrönten König zu ignorieren. Sie fühlten sich über das, was er als nächstes tun würde, sogar derart unsicher, daß sie ihn ständig im Auge behalten wollten. Sie betrachteten ihn in ihren Kämpfen um Macht und Beförderung als wildes Tier. Sie wußten nicht, in welche Richtung er flitzen oder wie viele von ihnen er in Ungnade fallen lassen könnte. Sie hatten weder mit der Hartnäckigkeit noch mit der beunruhigenden Phantasie ihres künftigen Königs gerechnet. Diese Phantasie schien nun, seit er Bror Brorson das Leben gerettet hatte, in Bereichen Zuflucht zu suchen, in die ihm niemand folgen konnte. Er schien die Welt nicht so zu sehen, wie sie war, sondern wie er sie sich in seinem Kopf ausmalte. Ein scharfsichtiges Mitglied der Rigsråd verglich den Königsknaben mit »einem Künstler, der auf einer unsichtbaren Leinwand arbeitet«.
Bei einer Versammlung des Herredag wurden Christian Dokumente vorgelegt, von denen man wußte, daß sie das Werk eines Fälschers waren. Man sagte ihm, das Datum im Wasserzeichen liege vor dem Zeitpunkt der Errichtung der Papiermühle,
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