Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Und wenn Ihr das Versprechen unterschreibt, Eurem Herrn das gestohlene Geld zurückzugeben, sollt Ihr frei sein.«
Der Herredag geriet in helle Aufregung. Es war fast so, als sei wieder einmal eine Rakete explodiert, diesmal in der großen Halle, und habe brennende Asche über die Häupter gestreut.
Am nächsten Tag kam Königin Sofie sehr früh, als Bror Brorson noch schlief, in sein Zimmer und rüttelte ihn wach. »Bror«, sagte sie, »steh auf! Christian hat mir befohlen, dir zu sagen, daß du sofort mit dem Stallburschen nach Kopenhagen reiten sollst, wo dich eine große Überraschung erwartet. Du darfst keine Menschenseele wecken. Geh nur in den Hof hinunter, wo dich der Stallbursche empfängt. Zieh deine Jagdkleidung an, und nimm deine Reitpeitsche, sonst nichts!«
Bror wußte nicht, wieviel Uhr es war. Er begriff nur, daß es sehr früh sein mußte, weil die Sonne über dem See noch nicht aufgegangen war.
Er tat, wie ihm befohlen war, und ritt durch die Tore von Frederiksborg, als die Palastuhr fünf schlug.
Auf der Straße zur Stadt, in dem Weiler Glostrup zügelte der ihn begleitende Stallbursche das Pferd, und Bror sah, daß im Schatten einer Linde eine der königlichen Kutschen wartete. Bror erhielt die Anweisung, jetzt in dieser weiterzureisen, und so stieg der Knabe vom Pferd auf die Kutsche um. Er beobachtete, wie der Stallbursche umkehrte und die beiden Pferde zum Palast zurückführte.
Doch die Kutsche kam nie in Kopenhagen an. Sie brachte Bror zu seinem Heim in Fünen zurück, und es sollten viele Jahre vergehen, bevor König Christian erlaubt wurde, ihn wiederzusehen.
Unzählige Briefe verließen Frederiksborg, in denen Christian erklärte, er sei einsam auf der Welt »ohne meinen liebsten Freund und Ein-Wort-Signierer-Kameraden Bror«. Doch er erhielt nie eine Antwort. Und Christian erwartete eigentlich auch gar keine, weil er ja wußte, daß Bror nicht dazu in der Lage war, eine zu schreiben.
AM »ISFOSS«
Der Konvoi ist in den eisigen Tälern des Numedal angekommen.
Alle Häuser im Umkreis von fünf Meilen von der Mine sind von der königlichen Gesellschaft beschlagnahmt worden. Die ehemaligen Bewohner schlafen nun auf den Heuböden oder zusammen mit ihren Tieren in den Scheunen. Sie rätseln über ihr Schicksal. Der König hat ihnen versprochen, sie an dem Silber zu beteiligen, das aus dem Felsen gehackt und gesprengt werden soll. Sie träumen abwechselnd von ihrer strahlenden Zukunft und verlorenen Vergangenheit.
Das größte Haus, das König Christian bewohnt, steht an einem Wasserfall. Es ist jedoch ein starrer Wasserfall. Er ist gefroren. Der König blickt unverwandt auf dieses Phänomen. Er versucht sich vorzustellen, in welcher Zeitspanne sich das tosende Wasser in stilles Eis verwandelt. In Gedanken weckt er den Katarakt wieder auf und sieht die unaufhaltsame Vorwärtsbewegung des Flusses, der alles mit sich reißt, als er den Felsrand erreicht, abstürzt, immer weiter abstürzt. In diesem Augenblick der Geschichte könnte man meinen, der Fluß sei ständig in Bewegung und im Absturz begriffen.
Dann stellt sich Christian vor, wie sich beim Absinken der Lufttemperatur winzige Kristalle auf der Wasseroberfläche bilden und die Weidenzweige entlang dem Ufer einen frostigen Pelz bekommen. Dann werden die Kristalle größer. Sie sind wie Glas und zerbrechen beim Abstürzen der Stromschnellen, werden eine Sekunde lang mit dem weißen Schaum emporgeschleudert, fallen wieder hinunter und werden von dem unteren Strom weitergetragen.
Die Bewegung wird langsamer, als sich die Glaskristalle ausdehnen, in die Tiefe gehen und sich auch an der Kante des Wasserfalls Eiskristalle bilden. In den winzigen Eiskristallen liegt die spätere Metamorphose vom Wasserfall zum gefrorenen Katarakt, dem Isfoss. Sie werden dicker, größer und schwerer. Das Wasser ist wie durchsichtiger Ton und formt sie, Schicht für Schicht. Je mehr Schichten sich anhäufen, um so stiller wird es. In der mit den umgebenden Bergen gebildeten Wiege ist das Tosen des Flusses nur noch gedämpft zu hören. Das menschliche Ohr muß sich jetzt schon anstrengen. Und dann wird es in einer einzigen Nacht ganz still.
All dies wendet und erwägt Christian in seiner Phantasie. Immer wieder führt er sich den Ablauf vor Augen. Doch sein Staunen darüber läßt nicht nach. Tief im Innern hält er es nicht für eine ausreichende Erklärung.
Krenze hatte Peter Claire gegenüber die Bemerkung gemacht, das Herz des Königs werde
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