Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
möchte, daß sie eine Erwiderung darauf hat, sich diese aber einfach nicht erlaubt. Ihre grauen Augen blicken ihn nun nicht mehr an, sondern nur noch auf das staubige Karree, wo die Hühner fast im Dunkeln ihr eintöniges Leben fristen.
»Ich hätte nicht kommen sollen«, sagt sie flüsternd. »Es tut mir leid, Mr. Claire. Ich hätte natürlich nicht kommen sollen.«
AUS GRÄFIN O’FINGALS TAGEBUCH,
»LA DOLOROSA«
In der Nacht, in der Johnnie in Dublin war, trug ich Peter Claire ein paar Zeilen aus Shakespeares Sonetten vor, die ich noch aus der Zeit, als mir Johnnie geduldig Englisch beibrachte, in Erinnerung hatte. Ich hatte sie fast nur als Worte ohne Bedeutung auswendig gelernt, doch nun sah ich, welche Gefühlstiefe darin lag. Nachdem ich sie aufgesagt hatte, lagen Peter und ich noch lange Zeit schweigend beieinander. Als dann der erste Vogel zu zwitschern begann, wußten wir, daß der Morgen graute und die Nacht vorüber war.
Dein Herz ist höher mir als hohes Blut,
Teurer als Gold, Gewänder, edle Steine,
Beglückender als Pferd- und Hundebrut,
Und hab’ ich dich, ist aller Stolz der meine.
Unselig darin nur, daß du mir’s ganz
Entziehn und mich höchst elend machen kannst!
Da wußte ich noch nichts von dem Ausmaß des Elends, das folgen sollte.
Am nächsten Tag kam Johnnie O’Fingal aus Dublin zurück. Er mußte von den Dienern ins Haus getragen werden, weil er in der Kutsche so krank und schwach vorgefunden worden war, daß er sich nicht auf den Beinen halten konnte.
Wir brachten ihn ins Bett, und er fiel in einen tiefen Schlaf, der ungefähr zwanzig Stunden anhielt und von dem er zwischendurch nur einmal aufwachte, um nach Wasser zu rufen.
Nachdem ich lange Zeit an seinem Bett gewacht hatte, ging ich schließlich in mein Zimmer, um mich auszuruhen, wachte aber mitten in der Nacht auf, weil es mir am ganzen Körper merkwürdig kalt war und ich mir das nicht erklären konnte.
Ich blickte an mir hinunter und sah, daß mir mein ganzes Bettzeug weggenommen worden war und ich nackt auf der Matratze lag. Als ich nach den Zudecken greifen und sie wieder über mich ziehen wollte, merkte ich, daß mein Mann im Dunkeln an meinem Bett stand.
»Johnnie …«, sagte ich.
»Er hat mir nie gehört!« verkündete er.
Er hielt eine Ecke meines Bettzeugs zusammengeknüllt in der Hand, und ich konnte es ihm nicht wegziehen. Es beunruhigte mich sehr, daß ich jetzt so vor ihm lag, unbekleidet und kalt, während mein Geliebter in einem anderen Teil des Hauses schlief. Ich zog hinter meinem Kopf ein Kissen hervor und legte es mir auf den Bauch. Johnnie blickte weiter auf mich, als würde er das, was er sah, verabscheuen, und mein erster Gedanke war, daß sich seine Worte Er hat mir nie gehört! auf meinen Körper bezogen, mit dem ich ihn betrogen hatte, und er darüber nun Bescheid wußte.
Ich zitterte, und das Herz schlug mir bis zum Halse, als ich sagte: »Johnnie, sag mir, was du meinst!«
Da setzte er sich auf mein Bett, als könnte er sich vor Müdigkeit nicht mehr auf den Beinen halten und hätte keinerlei Kraft mehr in den Gliedern. Er legte den Kopf in die Hände. Ich zündete eine Kerze an, und dann kniete ich mich hin und zog das Laken hoch, um mich damit zuzudecken und Johnnie gleichzeitig darin einzuwickeln, als könnte dies seine Not lindern.
Und dann erzählte er mir, was in Dublin vorgefallen war.
Am zweiten Abend dort in der Stadt ging er in die Kirche von St. Jerome of Kilbride, wo Chor und Orchester ein Konzert religiöser Lieder gaben. Er war früh da, so daß er im Hauptschiff ziemlich weit vorn saß. Er blickte zerstreut auf die Musiker, als wären diese gar nicht wirklich da, sondern nur Phantasiegestalten.
Er kannte das Konzertprogramm nicht, hatte jedoch eine Vorahnung, daß gleich zu Beginn etwas Schreckliches geschehen würde. Er wollte schon wieder aufstehen und gehen, als das Orchester zu spielen begann. Und was es spielte und der Chor dann aufnahm und in den Himmel trug, war genau die Melodie, die Johnnie O’Fingal in seinem Traum gehört hatte.
Weinend saß er auf meinem Bett. »Ich glaubte, dieser erhabene Klang sei in meiner Seele entstanden«, schluchzte er. »Ich glaubte, er käme von mir, aus meinem Wesen, meinem Herzen … doch er hat mir nie gehört, Francesca! Der Komponist war ein Landsmann von dir , Alfonso Ferrabosco! Nun weiß ich also, daß in mir nichts Edles ist, nichts, was über das Gewöhnliche und Alltägliche hinausgeht. Ich habe viele Jahre meines
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