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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Rind und Wildschwein, die ihr zur Ansicht hingehalten wurden, war der Respekt, mit dem die Gäste sie offensichtlich mit ihrem Lächeln, ihren heftig nickenden Köpfen und ihrem zustimmenden Lachen behandelten.
    Doch ach, plötzlich gab es ein Problem!
    Vibeke spürte, wie ihr Körper von den Näherinnen fast schmerzhaft zusammengedrückt wurde, als diese versuchten, sie in das schöne Kleid zu schnüren. Sie zerrten und mühten sich ab. Ellen Marsvin schaute zu und ließ sich nur eine leichte Bestürzung anmerken. Vibekes Träume lösten sich auf, und es blieb ihr nur die Wirklichkeit eines zu engen Kleides und ihr Spiegelbild, in dem sie immer mehr den dümmlichen Eindruck eines gefüllten und mit Fäden umwickelten Perlhuhns machte.
    »Das verstehe ich nicht, Fru Marsvin«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Obwohl meine Maße genommen wurden, paßt das Kleid nun nicht.«
    »Nein, wohl nicht! Das sehe ich! Was für eine Schande!« sagte Ellen. Dann wandte sie sich an die Näherinnen.
    »Sind Fresken Kruses Maße richtig aufgeschrieben worden?«
    Alle nickten. »Ja, Madam. Wir haben sie sehr sorgfältig notiert.«
    »Könntet ihr euch beim Anfertigen des Kleides verrechnet haben?«
    »Nein, Fru Marsvin. Bei einem so teuren Stoff erlauben wir uns keinen Irrtum.«
    Ellen Marsvin seufzte und meinte: »Nun, vielleicht passen ja die anderen. Probier die anderen an, Vibeke!«
    Die Haken und Bänder wurden geöffnet, und Vibeke spürte, wie das Kleid von ihr abfiel. Sie sah zu, wie es die Näherinnen beiseite legten, und griff nach dem zweiten Gewand, einer beispiellosen Kreation aus blauem Samt, goldener Perlschnur und Satinschleifen. Die bloße Berührung, als sie dieses jetzt zu sich heranzog, weckte in ihr das heftige Verlangen, wieder bei dem Bankett ihrer Phantasie zu sein, wo sie der Ehrengast gewesen war. Doch es sollte nicht sein. Trotz aller Bemühungen der Näherinnen konnte Vibekes Fleisch nicht in das schöne Kleid gezwängt werden, und so mußte sie erleben, daß ihr auch dieses Wunderwerk wieder aus den Händen gerissen wurde.
    Als Vibeke alle fünf Kleider anprobiert hatte und sich herausstellte, daß keins paßte, setzte sich Ellen Marsvin hin und stützte den Kopf in die Hände. »Wirklich«, sagte sie, »das ist eine große Enttäuschung, Vibeke! Die Kleider waren schrecklich teuer, und ich kann mir die Ausgabe auf keinen Fall noch einmal leisten. Zum Glück hast du ja deine eigene Garderobe mitgebracht, die du nun anziehen …«
    »O nein!« rief Vibeke. »Offenbar habe ich auf Boller zugenommen. Wenn die Kleider für mich aufgehoben werden, verspreche ich, künftig maßvoller zu essen. Ich weiß, daß es ein Fehler von mir ist, gegen den ich angehen muß. Ich bitte Euch, Fru Marsvin, gebt die Kleider nicht weg! Laßt die Näherinnen in einem Monat wiederkommen, und ich schwöre, daß sie mir dann passen!«
    »Nun«, meinte Ellen, »es ist jetzt aber Sommer, Vibeke, wenn das Essen auf Boller am reichlichsten, die Sahne am dicksten und das Hammelfleisch am schmackhaftesten und zartesten …«
    »Ich weiß«, unterbrach sie Vibeke, der sehr nach Weinen zumute war (die aber bei der Erwähnung des zarten Hammelfleischs auch unfreiwillig quälenden Hunger verspürte). »Ich weiß, Fru Marsvin, doch ich schwöre, daß ich mir eine Kur ausdenke und diese eisern durchhalte, wenn ich nur diese Kleider bekomme …«
    Ellen schüttelte den Kopf und hob den Blick so traurig zu Vibeke, als wolle sie sagen: Du wirst es nicht schaffen, du wirst in Versuchung geraten und ihr nachgeben! Doch schließlich wandte sich Ellen den Näherinnen zu, die sich nichts anmerken ließen, sondern vielmehr so ernst und sorgenvoll dreinblickten, wie sie es sich nur wünschen konnte, und sagte: »Hebt die Kleider sechs Wochen für Frøken Kruse auf! Ich lasse euch kommen, wenn sich bei ihren Maßen eine Änderung abzeichnet. Wenn ihr nichts von mir hört, schickt die Kleider nach Rosenborg für die eine oder andere der Frauen meiner Tochter.«
    Da stieg ein Laut aus Vibekes Kehle auf. Ellen Marsvin wird diesen kleinen qualvollen Laut später mit dem Schrei der blauen Sumpfrohrdommel vergleichen, die es seit der Dürre des Jahres 1589 in Jütland nur noch sehr selten gibt. »Immer wenn ich den kleinen Schrei der Sumpfrohrdommel höre«, wird Ellen dann sagen, »muß ich an die Wurzeln der Pfefferminze und deren geheime Wege denken.«

DIE ANKÜNDIGUNG
    Jetzt ist es Juli, der Monat, für den König Christian das Eintreffen der ersten

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