Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Möwenschreie, das Schlagen des Wassers gegen die hölzernen Landestege.
Er denkt jedoch nicht lange an seine Familie. Seine Gedanken kreisen immer wieder um Emilia Tilsen, ohne aber zu irgendwelcher Klarheit oder Sicherheit zu gelangen. Es ist, als habe man ihm die Aufgabe gestellt (wie es einmal seine Schwester Charlotte zum Spaß getan hatte), eine Serviette zu einer Wasserlilie zu falten. Er kann sich eine solche Lilie zwar vorstellen, doch hat ihm niemand gezeigt, wie man es macht. So faltet er, entfaltet, faltet erneut. Doch es wird keine Wasserlilie.
Nach den kartesianischen Prinzipien, über die er im Numedal mit dem König gesprochen hatte, hält er noch einmal das eine fest, dessen er sich sicher fühlt. Er drückt es so aus: Ich verspüre eine fast unaufhörliche Sehnsucht oder den heftigen Wunsch, in Emilias Nähe zu kommen. Von ihrer Zustimmung scheinen meine ganzen Hoffnungen auf ein künftiges Glück abzuhängen.
Die Möwen rufen zu den Wolken hinauf, und der Wind zerzaust Peter Claire die Haare und bläst ihm ein paar Strähnen in die Augen. Er fragt sich: Was ist eine solche Sehnsucht? Wie kann man sie definieren? Ist sie ein wirkliches Bedürfnis oder nur ein Trugbild oder eine Phantasterei? Ist es lediglich eine Sehnsucht meines Körpers oder meines ganzen Wesens?
Ihm scheint klar zu sein, daß die Sehnsucht keiner früher empfundenen gleicht. Wenn er mit Francesca O’Fingal auf Cloyne am Meer entlang spazierenging, sehnte er sich danach, sie zu besitzen. Doch bei Emilia sehnt er sich nicht nur danach, sie körperlich zu besitzen. Es ist noch etwas anderes, etwas Absoluteres. Es ist , sagt er sich, als glaube ich, daß mir, während ich Emilia erblicke, in jeder Sekunde, die ich sie im Auge behalten kann, kein Schaden und Leid zugefügt werden kann. Es ist, als habe ich die Vorstellung, ich könne, solange ich bei ihr bin, nicht sterben.
Doch noch immer hat er keine konkrete Offenbarung einer unwiderlegbaren Wahrheit. Ist das, was er zu fühlen glaubt, vielleicht nur eine aus seiner Einsamkeit und langen Trennung von seiner Familie und der Gräfin entstandene Illusion? Wird er morgen oder übermorgen aufwachen und feststellen, daß die Sehnsucht verschwunden ist?
Seit jenem Tag, an dem er sich mit Emilia im Garten unterhalten hat, ist er ihr nur einmal begegnet. Sie trafen sich in einem Gang des Palastes und blieben stehen, und Peter Claire griff nach Emilias Hand. »Ich muß mit Euch sprechen!« sagte er.
Emilia blickte ihn mit ihrem kleinen sorgenvollen Stirnrunzeln an, und er wußte nicht, was das bedeutete. Er hatte gesagt, er müsse mit ihr sprechen: Was wollte er ihr überhaupt sagen? Ein Teil von ihm wollte ihr erzählen, daß er ein Lied mit dem Titel »Lied für Emilia« schrieb, doch er merkte, daß er sich nicht dazu bringen konnte, dies zuzugeben, für den Fall (was er für sehr wahrscheinlich hielt), daß sich das Lied, wenn es fertig war, als etwas hoffnungslos Mittelmäßiges herausstellen würde. Daher wiederholte er: »Ich muß mit Euch sprechen!« Doch danach wußte er nicht weiter. Er sah sich außerstande, diesem einen Satz etwas folgen zu lassen. Er konnte lediglich Emilias Hand an die Lippen pressen und sich dann von ihr abwenden und weggehen.
Als er später in seinem Zimmer über den Ställen war, verachtete er sich wegen seines Stammelns und seiner Feigheit. Er setzte sich an seinen Sekretär und begann Emilia einen Brief zu schreiben. Doch er kam, wie mit dem Lied, auch mit dem Brief nicht weiter und gab es bald auf.
Emilia, die nie eitel gewesen ist, der nie der Gedanke gekommen ist, sich für hübsch zu halten, betrachtet ihr Gesicht nun minutenlang im Spiegel.
Eine kleine Nase, sanfte, graue Augen, ein überraschend sinnlicher Mund, eine blasse Haut: Was ergeben diese Komponenten? Ist sie durchschnittlich hübsch? Oder ist sie unmerklich und in aller Stille schön geworden? Sie bewegt ihren Kopf hin und her, sieht in ihrem Profil das ihrer Mutter und schließt daraus: »Wenn ich wie Karen aussehe, nun, dann bin ich hübsch.« Doch ist das die Wahrheit?
Sie wendet sich vom Spiegel ab. Aus den vielen Stunden, die Kirsten Munk jeden Tag ihren Anblick überprüft, hat Emilia gelernt, daß eine Frau, wenn sie sich immer wieder ansieht, versucht, sich mit den Augen ihres Geliebten zu sehen. Wenn sie einen Makel entdeckt, dann ist es nicht so sehr der Makel an sich, sondern mehr einer, wie ihn ihr Liebhaber bei mitleidlosem Betrachten wahrnehmen würde.
Warum
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