Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
vergeudet nun sie, Emilia, ihre Zeit damit, sich töricht ins Gesicht zu sehen? Sie benimmt sich, als habe sie einen Geliebten, obwohl das in Wirklichkeit gar nicht der Fall ist. Sie hat mit dem hübschen Lautenspieler ein paar Augenblicke im Garten verbracht, und er hat einmal in einem Korridor nach ihrer Hand gegriffen und diese einen Augenblick lang an die Lippen gepreßt. Derart flüchtige Begegnungen gibt es bestimmt tagaus, tagein und jahraus, jahrein im königlichen Palast. Sie bedeuten nichts. Es sind vorübergehende Entrücktheiten, die in der dünnen Luft entstehen und sich wie Lindenduft in nichts auflösen.
Emilia fällt ein, wie sie, als sie dem Lautenisten ihre Blumen in die Arme legte, das Gefühl hatte, es ginge etwas mehr als nur dies – ein Verstehen oder Einverständnis – zwischen ihnen über. Sie findet diese Erinnerung so überwältigend, daß ihr fast schwindlig davon wird. Doch wer kann schon sagen, ob ein solches Einverständnis tatsächlich vorhanden war? Denn ist das Leben nicht ständige Veränderung? Selbst Dinge, die einstmals unveränderlich schienen, wie Johanns Liebe zu seiner Frau Karen, können im Laufe der Zeit den Eindruck erwecken, es habe sie nie gegeben.
Sie versucht das Ganze aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie sagt sich, daß ein Mann wie dieser (der auch eitel, oberflächlich und ohne jedes Mitgefühl sein kann) wohl in einem einzigen Jahr Hunderte solcher »Einverständnisse« erzielt.
Emilia faßt den Entschluß, wieder ihre frühere Einstellung ihrem Leben gegenüber einzunehmen, in der die Liebe eines Mannes keinerlei Rolle spielte. Sie geht zum letztenmal zum Spiegel und verhängt ihn mit einem Schal.
Meine liebe Miss Tilsen [heißt es in dem Briefchen, das sie zwei Tage später erhält]!
Ich muß Euch in einigen Angelegenheiten ganz dringend sprechen.
Ich erwarte Euch am Freitag morgen um sieben Uhr im Keller, wo wir spielen (unter dem Vinterstue ).
Laßt Euch versichern, daß ich Euch sehr verehre und respektiere, und glaubt mir bitte, wenn ich Euch verspreche, daß Ihr bei diesem Treffen nichts auf der Welt zu befürchten braucht.
Peter Claire, Lautenist im Orchester Seiner Majestät
Emilia liest diese Zeilen mehrmals.
Dann faltet sie den Brief zusammen, legt ihn in die Schublade, in der sie ihre Spitzen und Bänder für die Unterröcke aufbewahrt, und beschließt, ihn zu vergessen.
Nach ein paar Stunden geht sie wieder zur Schublade, holt das Briefchen heraus und liest es weitere fünf Male. Dann faltet sie es erneut sorgfältig zusammen, legt es weg und schiebt die Schublade so kräftig zu, als wolle sie diese mit der Handbewegung nicht nur verschließen, sondern auch zugleich den Schlüssel wegwerfen.
Am Nachmittag sagt Kirsten zu ihr: »Emilia, du bist mit deinen Gedanken nicht beim Spiel! Du hast deinen Herzbuben weggegeben, obwohl du nur zu gut weißt, daß ich die Königin habe!«
Und so wird es Freitag.
Peter Claire wünscht ihn sich einerseits herbei, zugleich aber auch, er käme nie.
Um zehn Minuten vor sieben ist er im Keller. Er geht zu den Schlitzen in der Wand, durch die im Winter der Schnee drang, und blickt hinaus. Die Luft des frühen Morgens ist mild und warm.
Dann läuft er im Keller auf und ab, atmet den Harzduft der Weinfässer ein und liest die Zeichen und Schilder auf ihnen. Kaum hat er sie gelesen, da geht mit diesen eine Verwandlung vor sich, und es bilden sich Fragen:
Was mache ich, wenn sie nicht kommt?
Soll ich, wenn sie nicht kommt, daraus schließen, daß sie nichts empfindet, oder nur, daß sie Angst hat?
Es ist im Keller das ganze Jahr über kalt, doch Peter Claire ist es zu warm. Er setzt sich auf den Stuhl, auf dem er immer sitzt, wenn das Orchester spielt oder probt, und versucht gleichmäßig zu atmen, damit ihn Emilia um sieben Uhr ruhig und gelassen vorfindet. Und dann, als es eigentlich noch lange nicht sieben Uhr sein sollte, ist es soweit. Die Kirchturmuhr schlägt. Es kommt Peter Claire so vor, als habe diese in ihrer Eile, die volle Stunde zu erreichen, in verräterischer Weise drei oder vier Minuten seiner Existenz verschluckt.
Er wartet regungslos. Er lauscht jetzt auf das Geräusch der sich öffnenden Tür. Doch außer dem Scharren und Glucksen der Hühner im schmutzigen Käfig ist nichts zu hören. Er dreht sich um und blickt auf diese und bemerkt, daß jede Menge ihrer braunen Federn über den Boden verstreut sind, als hätten sie dort vergeblich nach Körnern gesucht, weil niemand daran
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