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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Silberbarren aus der Mine im Numedal in Kopenhagen erwartet.
    Die Vorstellung von Silber in so großen Mengen, daß alle seine Schulden bald bezahlt werden können, bietet einen sicheren Hafen für Christians ängstliches Gemüt. Immer wenn er bei der Erinnerung an Dänemarks Niederlage in den Glaubenskriegen von Wut und Reue gepackt wird, wendet er sich in Gedanken dem Tal des Isfoss und den Abermillionen dort im Fels eingeschlossenen Dalern zu. Er verleiht diesen (er sieht das Silber nicht mehr als Erzklumpen, sondern als neugeprägte Münzen) ein Bewußtsein und einen Willen. Er stellt sich vor, sie sehnen sich nach Befreiung, danach, in sein Staatssäckel zu kommen, durch seine prüfenden königlichen Hände zu gleiten und ihm zu dienen. In zahllosen Nächten hat er den Schlaf aus der Sicherheit dieser Träume heraus herbeigerufen, und dieser ist dann meist auch gekommen.
    Doch nun, als der Juli schon fast um und noch immer kein Silber eingetroffen ist, wird Christian allmählich unruhig.
    Er sitzt in seinem Arbeitszimmer, stellt Berechnungen für den Staatshaushalt an und kommt stets zu einem Saldo, der ihm Verdauungsprobleme bereitet. Überall im Land herrscht Mangel. Er beginnt sich zu fragen, ob es vielleicht noch etwas anderes gibt, eine andere Ware als harte Währung, um diesen Bedarf zu decken. Doch was könnte diese »andere Ware« sein? Könnten Entwässerungsgräben ohne Erde und Männer für deren Transport gelegt werden? Würde er unbezahlte Arbeitskräfte finden? Bestimmt hatten schon andere Könige von einem Staat geträumt, in dem sich die Untertanen damit zufriedengaben, das Herbstlaub einzusammeln und es Gold zu nennen. Doch am Ende gibt es keinen anderen Ausweg aus einem Mangelzustand als Geld und nochmals Geld – in Mengen, die im Laufe der Zeit, wenn die Träume von morgen die Notwendigkeit von heute werden, ständig größer werden.
    König Christian fertigt eine Liste an, die er mit der Überschrift Radikalmaßnahmen für den Fall eines Fehlschlags mit der Mine versieht. Diese Maßnahmen beinhalten das Einschmelzen seiner privaten Sammlung von Tafelsilber und -gold sowie die Verpfändung Islands an ein Konsortium von Händlern aus Hamburg. Er schreibt auch das Wort »Mutter« auf. Dahinter setzt er mehrere Fragezeichen, streicht es aber nicht wieder aus. Kirsten hatte ihm einmal erzählt, die Königinwitwe würde auf Kronborg »wie eine Schwarze Witwe auf einem großen Vermögen hocken«. Doch Kirsten konnte keinen Beweis dafür erbringen, nur ein »Das weiß doch jeder!«, so daß er angesichts der immerwährenden Streitigkeiten zwischen den beiden Frauen nicht sagen kann, ob es eine Tatsache oder die reinste Erfindung ist. Immer wenn er seine Mutter auf Geld anspricht, behauptet sie, eine arme Frau zu sein. »Ich habe kaum genug«, sagt sie dann, »um mir ein Körbchen Sardellen zu kaufen.«

    Eines Abends, als er seine Additionen gerade zum zehnten- oder elftenmal macht, kommt Kirsten zu ihm. Es fällt noch Licht durchs Fenster, und Kirsten setzt sich so vor ihn hin, daß ihr dieser letzte goldene Schein des Tages aufs Gesicht fällt, ihre weiße Haut bernsteinfarben tönt und kleine Flammenkringel in ihrem Haar erzeugt.
    Christian legt die Feder beiseite und verschließt das Tintenfaß mit dem Stöpsel. Er blickt Kirsten an. Er sieht keine Bosheit oder Wut bei ihr, sondern eine fast zärtliche Sanftmut, die ihn an die ersten Tage seiner Ehe mit ihr erinnert, als sie noch weich und formbar in seinen Händen war. »Nun, meine Maus?« fragt er.
    Sie sitzt sehr aufrecht auf dem Stuhl, die Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln hochgezogen. »Störe ich dich?« fragt sie.
    »Nur bei einer Arbeit, die mir Magenschmerzen bereitet.«
    »Was für eine Arbeit ist das?« fragt sie, und erst jetzt fällt Christian auf, daß sie offenbar nervös ist. In der Hand hält sie ein Fläschchen mit Riechsalz, das sie ständig im Schoß herumdreht.
    »Finanzen«, erwidert er freundlich. »Doch alles wird gut, wenn das Silber aus dem Numedal eintrifft. Was ist los, Maus?«
    Sie hebt den Kopf ans goldene Licht. »Nichts«, sagt sie, »jedenfalls hoffe ich, daß du es für ›nichts‹ hältst oder vielmehr für etwas, was dich freut, und zwar: Wenn es Winter wird, lege ich dir ein weiteres Kind in die Arme.«
    Christian kann nicht sprechen. Die Erkenntnis, daß Kirsten trotz ihrer Wutanfälle und Zurückweisungen, ihres Schmollens und ihrer Beschuldigungen, ihrer Weinkrämpfe und ihres wilden Benehmens seine

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