Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
wahre Frau bleibt und ihr Körper seinen Samen in sich aufnehmen und neues Leben entstehen lassen kann, wodurch der Bund zwischen ihnen wieder gefestigt wird, läßt ihn derart vor Liebe und Dankbarkeit überfließen, daß ihm Tränen in die Augen steigen. Seine ganzen Sorgen um die mißliche finanzielle Lage seines Staates fallen augenblicklich von ihm ab und sind vergessen. Er streckt die Arme aus. »Kirsten«, sagt er, »komm her! Laß uns Gott danken, daß er uns in Seinem Haus zusammengebracht hat und dich noch bei mir hält.«
Die Sonne geht jetzt sehr rasch unter, das Gold ist aus Kirstens Gesicht gewichen, und sie sitzt im Schatten. Sie hat ihre Riechsalzflasche geöffnet und hält sie sich an die Nase, als befürchte sie, ohnmächtig zu werden. Doch dann scheint sie die Schwäche, die sie zu übermannen drohte, zu meistern und geht zum König hinüber. Dieser streckt die Arme so inbrünstig nach ihr aus wie an jenem Tag, als er ihr Liebhaber wurde. Er nimmt sie auf den Schoß und küßt sie auf den Mund.
König Christian hat ein privates Notizbuch, in das er ab und zu die Gedanken und Betrachtungen einträgt, die ihm ungebeten in den Sinn kommen.
Diese Phantombeobachtungen , wie er sie nennt, faszinieren ihn weit mehr als das, was er »gewohntes weltliches Philosophieren« nennt. Diese Faszination beruht teilweise auf der Tatsache, daß er nicht weiß, wo diese Dinge herrühren und wie sie ihm in den Kopf gekommen sind. Gleicht das menschliche Gehirn einem Stückchen Land, wo sich die Feldfrüchte, Blumen, Unkraut und selbst die Samen mächtiger Bäume nach der Richtung des Windes oder dem Flugmuster der Vögel aussäen? Wenn ja, kann es vom Zufall angegriffen werden – wie von riesigen Wurzeln oder Disteln –, so daß dem Verstand kein Raum zum Gedeihen bleibt? Sollte ein Mann deshalb danach streben, nur Gedanken zuzulassen, die logisch aus anderen hervorgehen, und sich vor allem schützen, was in sich das Gefühl des Ungebetenseins trägt? Oder könnte es sein, daß bestimmte Arten wertvoller Wahrnehmung nur so eintreffen wie vom Wind verwehte Saat auf einer nassen Wiese und ihr Ursprung für immer unbekannt bleibt oder nicht erfaßt wird?
Doch der einzige Schluß, den Christian aus alldem ziehen kann, ist der, daß er die Antwort darauf nicht kennt. Diese widersetzt sich dem Definitiven. Doch sein Notizbuch füllt sich von Jahr zu Jahr mit diesen Gespenstern und Schatten, die manchmal, wenn er sie wieder liest, überhaupt keine Bedeutung zu haben scheinen, als wären es die Aufzeichnungen eines Verrückten. Eines Tages, sagt er sich, wird er aus den Notizbüchern einen Scheiterhaufen machen und alle seine hingekritzelten Gedanken und Halbgedanken als Rauch in den leeren Raum aufsteigen lassen, aus dem sie gekommen sind.
Später an dem Abend, an dem Kirsten ihm von ihrer Schwangerschaft erzählt hatte, als es dunkel geworden und er wieder allein ist, wird Christian plötzlich von einem dieser ungebetenen Gedanken gequält, und zwar von dem: Er hat Kirstens Besuch geträumt. Wenn das Gehirn von Sorgen überlastet ist – wie jetzt seins –, erfährt es plötzlich seltsame Heimsuchungen oder beschwört Träumereien, und hier handelte es sich nun um so etwas Unwesenhaftes. In Wirklichkeit war Kirsten überhaupt nicht in seinem Zimmer gewesen, hatte überhaupt nicht mit ihrem ins Abendlicht getauchten Gesicht dagesessen und überhaupt nichts gesagt. In Wirklichkeit war Kirsten überhaupt nicht dagewesen.
Christian wuchtet seinen schweren Körper aus dem Bett und nimmt die Lampe. Er weckt keinen Diener, sondern geht allein und barfuß über den kalten Marmorboden, bis er bei Kirstens Gemächern ankommt.
Auf sein Klopfen hin öffnet die junge Frau Emilia, und er sieht, daß hinter ihr in der Kammer Licht brennt, als habe Kirsten beschlossen, lange aufzubleiben, Karten zu spielen oder mit ihren Frauen zu klatschen. Doch als er sich an Emilia vorbeigeschoben hat, stellt er fest, daß der Raum leer ist. Das Bett ist für die Nacht gerichtet, doch niemand hat darin geschlafen.
»Ist sie bei mir gewesen?« fragt der König.
Emilia sieht verwirrt aus. »Bei Euch, Sir?«
»Früher am Abend! Als die Sonne gerade unterging. War sie da in meinen Räumen?«
»Ich weiß nicht …«
Emilia verhält sich sehr ruhig, sieht den König aber nicht an, als sie sagt: »Sie hat Kopenhagen verlassen, Euer Majestät – nur für den Abend …«
»Kopenhagen verlassen? Zu welchem Zweck? Wohin ist sie
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