Melodie des Südens
mit ihnen. Vom oberen Deck aus hatte Simone die beiden gesehen, wie sie die Köpfe zusammensteckten, die Arme verschränkt, und redeten. Sie kannte Mr Chamard nicht sehr gut, aber sie las unterdrückten Zorn aus dem ständigen Mahlen seiner Kiefer und aus der Art, wie er die Hände fest hinter dem Rücken verschränkt hielt, wenn er Stunde um Stunde auf dem Schiffsdeck stand.
Simones erste Reaktion war Furcht gewesen. Gabriel konnte schließlich einen Unfall gehabt haben. Aber als seine Brüder Nachricht schickten, dass sie von einer Entführung ausgingen, hatte sie förmlich geschäumt vor Zorn. Sie fühlte sich hilflos, frustriert, voller Angst. Und entsetzlich zornig. Natürlich erkannte sie die Wut, die Mr Chamard in sich trug. Sie wunderte sich ja über sich selbst, dass sie nicht in Flammen aufging. Aber jetzt tat sie wenigstens etwas, und sie hatte die Kraft, alle sieben Meere zu durchsuchen, wenn es nötig war.
Sie hatten jeden einzelnen Weg erforscht, der von der Landstraße abging, aber jeder hatte bei einer verlassenen Farm geendet. Sie hatten sich umgesehen, aber nie auch nur eine Spur menschlichen Lebens gefunden.
Am zweiten Tag bogen sie wieder in einen solchen Weg ab. Auf dem Sandboden zeichneten sich Hufabdrücke ab. Vier Pferde, sagte Valentine. Simones Herz schlug schneller. Das konnten sie sein. Sie ritten weiter, einer nach dem anderen auf dem schmalen Weg. Ein Pfirsichgarten, dann einige Pekanbäume. Und dann eine Lichtung mit einem Bauernhaus.
Simone sah eine Gestalt, die sich drinnen bewegte. Sie sprang vom Pferd und flog förmlich dahin, während ihre Unterröcke um sie wehten wie weiße Wolken.
Yves Chamard, der Freund ihrer Kinderjahre, kam ihr auf der Veranda entgegen, und all ihre Hoffnung lag in dem einen Wort, das sie hervorbrachte: »Gabriel?«
Yves lächelte. »Er ist hier.«
Sie drückte sich an ihm vorbei, um ihn zu finden. Er war hier, in diesem Haus! Das erste Zimmer, das ihr nach all dem Sonnenschein ganz dämmrig vorkam, war so leer, dass ihre Schritte hallten. Nur eine Bank, ein paar Lederstühle, eine Flasche mit Wildblumen auf einem abgenutzten Tisch. Sonst nichts. Ihre Stiefel schlugen auf die Bodenbretter. Sie öffnete die nächste Tür. Verblichene Vorhänge flatterten im Wind und breiteten einen roten Schimmer über drei leere Betten. Die nächste Tür stand ein wenig offen. Simone riss sie weit auf. »Gabriel?«, hauchte sie.
Das geöffnete Fenster war verdunkelt, sodass sie die Gestalt auf dem Bett kaum erkennen konnte. Der Mann bewegte sich, die Matratze raschelte. Dann schob der Windzug einen Vorhang beiseite und warf einen Streifen Licht auf ihn, als er sich auf einen Ellbogen stützte.
»Gabriel!« Simone warf sich in seine Arme, berührte und schmeckte ihn, atmete ihn ein. Erst jetzt weinte sie, zum ersten Mal, seit er verschwunden war. Aber jetzt konnte sie auch nicht mehr aufhören. Gabriel nahm sie in die Arme und hielt sie fest, als wollte er sie nie mehr loslassen.
Irgendjemand schloss die Schlafzimmertür, und nun hatte sie Gabriel für sich, ganz für sich. Sie umfasste sein Gesicht mit ihren beiden Händen mit den langen Fingern, und mit ausgehungerter Eile küsste sie seine Augen, seine Stirn, sein Ohr, und das Salz auf seiner Haut mischte sich mit ihren Tränen. Er schob ihre Haube nach hinten, umfasste ihr Gesicht und küsste sie.
Wilde Küsse und geflüsterte Namen. Simone wollte ihn nur im Arm halten und selbst festgehalten werden. Sie sanken zurück, sodass sie neben ihm lag. »Ich habe gedacht, ich hätte dich verloren.«
»Nein, Liebste, ich bin hier.«
Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Ich lasse dich nie mehr aus den Augen, nicht für einen Moment.«
Er lächelte. »Ich nehme das als Versprechen.«
Schritte und Stimmen aus dem Nebenzimmer erinnerten Simone daran, dass Monsieur Chamard ebenso weit gereist war wie sie, um Gabriel zu finden. Sie würde ihren Liebsten ein paar Minuten loslassen müssen. Aber nicht lange, bald würde sie ihn wieder berühren können. »Dein Vater ist hier.«
Sie küsste ihn. Noch einmal. Dann rollte sie sich vom Bett und ordnete ihr Haar. Immer noch Gabriels Hand in ihrer, ging sie zur Tür, öffnete sie und lächelte Bertrand Chamard zu. Er ging hinein zu seinem Sohn, und Simone ließ ihnen Zeit für ein Treffen unter vier Augen.
Als sie Yves im großen Zimmer traf, grinste er. »Na, hat er sich gefreut, dich zu sehen?«
Simone lächelte und wurde rot. Sie hörte Schritte auf der Veranda. Yves stellte
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