Melodie des Südens
darf ich den Verband abwickeln?«, fragte Marianne. »Ich habe Medizin mitgebracht.«
»Miss Marianne, ich habe kaum selbst den Mut aufgebracht, mir die Bescherung anzusehen.«
Yves ging zur Tür und rief nach Pearl, die aufmerksam und angespannt mit den Pferden da stand. »Kannst du uns Miss Mariannes Arzttasche bringen?« Dann kniete er sich wieder zu Gabe und hielt seine Hand, um ihm zu helfen, wenn es wehtat.
Marianne wickelte eine Lage Verband nach der anderen ab. Yves wusste, er würde hinsehen müssen, aber er fürchtete sich davor. Wenn man bloß die Knochen nicht sah!
»Hatten Sie Fieber?«, fragte Marianne. »Ist die Wunde sauber gehalten worden?«
»Es ist ein glatter Schnitt, und Ginny hat die Wunde verschmort.«
Marianne nahm die letzte Lage Verbandsmaterial ab. Yves starrte die gegenüberliegende Wand an und schluckte schwer. Er wollte nicht, dass sie mitbekam, wie nahe er daran war, sein Frühstück von sich zu geben. Und auch sein Bruder sollte nichts davon merken.
Nachdem der letzte blutige Verbandsstreifen abgenommen war, konnte man die Amputationswunde in dem bisschen Sonnenlicht sehen, das zur Tür hereinfiel. Marianne lehnte sich zurück und sah den zerstörten Fuß an. Woher sie bloß die Nerven hatte?, fragte sich Yves.
»Wir sollten doch wohl die Haut über die Stümpfe ziehen, oder?«, fragte sie.
Gabe verstärkte seinen Griff an Yves’ Hand bei dem Gedanken an den Schmerz. »Dafür ist es zu spät.«
»Du meinst, du …« Er konnte kaum den Gedanken an die Schmerzen ertragen, die Gabe bereits erlitten hatte, und jetzt wollte Marianne … Er dachte nicht weiter darüber nach.
»Ich habe es in einem meiner Bücher zu Hause gelesen«, sagte sie zu Yves. »Man kann die unverletzte Haut nehmen und sie um die Wunde herumlegen.« Sie beschrieb mit dem Finger eine Linie um Gabriels Fuß. »Man muss …«
Plötzlich stand Yves auf. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, und er fühlte sich krank. Marianne und Gabe sahen sich an, aber jetzt war sein Stolz einfach schwächer als seine Übelkeit.
»Vielleicht bekommt Pearl meine Tasche nicht vom Sattelknauf«, versuchte Marianne ihm eine Brücke zu bauen.
»Wahrscheinlich.« Yves stürzte zur Tür hinaus und schnappte nach Luft, aber das half nichts mehr. Er beugte sich über ein Beet mit vertrocknetem Phlox und übergab sich. Wie demütigend!, konnte er noch denken.
Während er sich draußen den Mund abwischte, konnte er hören, wie Marianne leise zu Gabriel sagte: »Wissen Sie, er ist mein Held.« Sie hatte ein Lächeln in der Stimme.
23
Simone verschränkte die Arme, um nicht mit den Händen herumzufuchteln. Jede Stunde brachte der Fluss sie Gabriel näher, aber ihr ging das alles nicht schnell genug. Yves hatte geschrieben, dass er krank gewesen war. Wie krank? Hatte er Schmerzen? Sorgte irgendjemand für ihn? Selbst hier in Natchez waren sie noch mindestens zwei Tage davon entfernt, ihn zu treffen, zwei Tage, in denen sie das Warten und die Sorgen ertragen musste.
Bertrand Chamard legte ihr eine Hand auf den Arm. Mit freundlicher Stimme sagte er: »Davon, dass du hier stehst und schaust, werden die Pferde auch nicht schneller ausgeladen.«
Sie waren im schlimmen Teil von Natchez, unterhalb des Hügels, wo die Dampfer anlegten und Glücksspiel, Alkohol und Huren auf die Flussschiffer warteten.
»Komm, lass uns nach dem Proviant sehen«, sagte er.
Sie nahm seinen Arm, und sein Diener Valentine folgte ihnen zu den Läden am Ufer. Sie kauften alles, was man zum Überleben auf der Landstraße brauchte: Maismehl, Speck, Zündhölzer, Regenmäntel und eine Bratpfanne. Auf dem Weg zurück zum Anleger blieb Gabriels Vater stehen und sprach mit einem Bekannten. Es kostete Simone alle Willenskraft, nicht herauszuplatzen. Sie wollte endlich aufbrechen.
Endlich waren die drei Pferde gesattelt. Simone folgte Mr Chamard den steilen Hügel hinauf nach Natchez hinein, durch die geschäftigen Straßen und endlich hinaus auf die Landstraße.
Und dann waren sie schließlich doch unterwegs! Die Untätigkeit auf dem Dampfer hatte Simone fast verrückt gemacht. Sie war auf Deck herumspaziert, hatte das Ufer beobachtet, war wieder ein Stück gegangen. Der gute Mr Chamard war sehr geduldig und freundlich gewesen. Ein charmanter Mann, das musste man wirklich sagen. Kein Wunder, dass Tante Cleo so viele Jahre bei ihm geblieben war.
Er war genauso in Sorge wie sie, er konnte es nur besser verbergen. Valentine, Monsieur Chamards Leibdiener, sorgte sich
Weitere Kostenlose Bücher