Melodie des Südens
Sie hatte keinen Schuss gehört. Dann erinnerte sie sich, wie Monroe und die anderen Männer geschrien hatten, als die Steine sie getroffen hatten. Yves konnte mit der Steinschleuder sehr gut umgehen.
Pearl schlief noch, und Marianne ließ sie schlafen, damit sie sich so gut ausruhte, wie es ging. Steifbeinig und mit wunder Sitzfläche beugte sie sich über das Feuer, um zu prüfen, wie weit das Fleisch schon war. Es sah noch nicht aus, als wäre es durchgebraten, aber was verstand sie schon vom Kochen?
Sie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Warum hatte sie bloß keinen Kamm mitgenommen? Das meiste war noch hochgesteckt, wenn man von einigen Locken absah, die sich nun einmal nicht bändigen ließen. Sie würde ihre Haube später aufsetzen.
Wo Yves wohl war? Fünfundzwanzig Meter entfernt stand er am Ufer eines kleinen Sees. Sie überquerte eine Fläche voller Tannennadeln und blieb ein Stück hinter ihm stehen. Er war in Hemdsärmeln, keine Frackschöße, die seine Länge verdeckten. Von den breiten Schultern verjüngte sich der Körper bis hinunter zu den schmalen Hüften und den langen Beinen. Marianne lehnte sich an einen Baumstamm, eine Wange an der Baumrinde, und stellte sich die muskulösen Beine unter dem Hosenstoff vor.
Yves hatte eine Hand voll Steine bei sich und ließ sie über die Wasseroberfläche hüpfen, wobei er die Anzahl der Sprünge beobachtete. Sieben, acht! Er war richtig gut! Einen ganzen Kindersommer lang hatte sie mit Adam geübt, Steine über die Wasseroberfläche springen zu lassen. Aber mehr als drei Sprünge hatte sie nie zustande gebracht.
Sie ging zum Wasser, nahm einen Stein und warf ihn. Zwei, drei, vier!
Er lächelte. »Nicht schlecht für ein Mädchen.« Er warf selbst noch einmal. Nur sechs.
»Schlechter Tag?«
Er sah sie an, und sie wusste genau, was er dachte. Er zog sie wieder mit Blicken aus, natürlich nur mit Blicken, aber sie spürte es trotzdem. »Hör auf damit«, sagte sie.
»Jawohl, Madam«, grinste er, warf einen Stein in die Luft und fing ihn wieder auf.
Ein Zwei-Tage-Bart umrahmte seinen Mund und zeichnete seine Kinnlinie nach. Der Oberlippenbart würde vermutlich kratzen, wenn er sie küsste, dachte sie. Das würde sie gern herausfinden.
Er griff herüber, pflückte eine vom Weg abgekommene Raupe von ihrer Schulter und hielt sie vor ihren Augen hoch, damit sie sie bewundern konnte. »Weißt du, was wir mit Raupen gemacht haben, als wir Jungs waren?«
»Was denn?«
»Marcel und ich haben uns alle kleinen Mädchen gesucht, die wir finden konnten. Die grünsten, saftigsten Würmer oder Raupen oder was auch immer hielten wir vor ihnen in die Höhe, und dann haben wir sie aufgegessen.«
»Gar nicht wahr.«
»Wohl wahr. Die Mädchen kreischten dann natürlich los und rannten weg. Gabes Cousinen wohnten im Nachbarhaus, gleich neben dem Haus seiner Mutter, und wir haben manchen Sommer mit ihnen unseren Spaß gehabt. Bis Marcel die Würmer im Magen nicht mehr vertragen konnte.«
»Aber du hast nie die Freude daran verloren, sie zu essen, oder?«
»Nein, nie.« Er hielt die Raupe vor ihr in die Höhe. »Willst du es sehen?«
»Nein, bitte nicht. Ich würde das Bild für immer und ewig vor Augen haben.«
»Und du würdest dich nicht mehr von mir küssen lassen?« Er kam näher.
»Absolut nicht, nie mehr.«
Er warf die Raupe weg und kam noch ein bisschen näher. »Ich habe schon seit Jahren keinen Wurm mehr gegessen.«
»Keinen einzigen?«
Sein Mund lag auf ihrem. Er schmeckte nach Brombeeren. Er hatte auf sie gewartet. Dann schmeckte sie nur noch seine Lippen, seine Zunge. Das Hemd fühlte sich über den harten Muskeln seines Brustkorbs dünn an. Sie fuhr mit den Fingern über seine Rippen, über die Rückenmuskeln. Es fühlte sich genauso an, wie sie es erwartet hatte. Während sie ihn unter ihren Händen spürte, wurde auch ihre Haut lebendig. Er liebkoste ihren Nacken, verfolgte langsam ihr Rückgrat bis hinunter zur Taille. Dann breitete er die Hände aus und drückte sie gegen sich. Sie öffnete die Lippen. Sie hätte ihn eingeatmet, wenn das möglich gewesen wäre.
Yves zog den Kopf zurück, hielt sie aber dicht an sich gedrückt. »Weißt du was?«
Marianne legte das Gesicht an seine Brust. Sie konnte sein Herz hören, das genauso schnell schlug wie ihres. »Was?«
»Es ist gut, dass du Pearl mitgenommen hast.«
Sicher war es das. Marianne seufzte. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren, schließlich ging es nur um ein paar Küsse, die ihm
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