Melville
hundert
Jahre möglich. Mein Erzeuger, zum Beispiel, war bereits über
vierhundert Jahre alt, als er sich mir offenbarte. Es ist weniger die
Frage, ob dein Körper es verkraftet, denn das tut er, sondern mehr,
ob deine Psyche stabil bleibt. So alt zu werden birgt Gefahren, die
sich zu Beginn nicht abschätzen lassen.“. Seine Aussage beruhigt
und verunsichert mich zugleich. Über vierhundert Jahre, ich bin noch
nicht einmal vierzig.
Langsam
flanieren wir über den Leicester Square und ich beobachte die
Menschen aufmerksam. Obwohl ich mich vorher nie für sie interessiert
habe, empfinde ich nun eine gewisse distanzierte Faszination für
sie. Wie sie aufgeregt mit ihren Fotoapparaten die Handabdrücke der
Stars auf dem Platz für spätere Erinnerungen festhalten. Festhalten
um nicht zu vergessen, bis der Tod sie dahinrafft und die nach ihnen
Lebenden diese Dokumente desinteressiert entsorgen. Doch dann werde
ich noch leben, jung sein und ein Teil des Pulses der zukünftigen
Zeit. Und es sind diese Gedanken, die mich erhabenen Schrittes an den
Kinobesuchern und nicht abklingenden Strom an neuen Menschen aus den
U-Bahnhöfen und Restaurants vorbeigehen lassen. Dieser
philosophische Moment in mir, lenkt mich zwar auch ein wenig von
meiner jetzigen Aufgabe ab, aber zu meiner Überraschung habe ich eh
direkt festgestellt, dass gleich einige für mich als Beute in Frage
kommen würden. Die Gemeinsamkeit dieser Auserwählten ist mir nur
noch nicht ganz bewusst. Doch ich will Benedict nicht darüber
informieren, bis ich nicht jemanden entdecke, der außergewöhnlich
intensiv mein Tier in mir herausfordert und mir quasi das Wasser im
Munde zusammenlaufen lässt.
Wir
können unter ihnen wandeln, ohne dass sie begreifen, wer wir
eigentlich sind. Wir beide schweigen und ich habe das Gefühl, dass
Benedict ein wenig in alten Erinnerungen schwelgt. Sein Blick gilt
weniger den Menschen, viel eher den Gebäuden, die an den Platz
grenzen. Öfters richtet sich sein Blick nach oben, zu den Fassaden
und dunklen Fenstern, die stillgelegten Bereiche, abseits des
nächtlichen Trubels auf den Straßen.
Und
dann entdecke ich sie. Sie ist wunderschön, porzellangleiche Haut,
zarte Rosélippen, lange Beine, die sie sicher auf eine Körpergröße
über einen Meter siebzig heben. Ihr graziler Gang, während sie
eilig an uns vorbei geht und angeregt durch ihr Mobiltelefon mit
jemandem spricht. Für mich fließt ihre Erscheinung eher vorbei.
Obwohl es nur einige Sekundenbruchteile sind, stürze ich mich
innerlich bereits auf sie. Benedict bemerkt meine plötzliche Drehung
in ihre Richtung und greift nach meinem Arm.
„Halt!“,
spricht er mir leise, aber sehr bestimmt in das Ohr.
„Ist
sie es? Die brünette Frau am Telefon?”.
„Ja...“,
hauche ich nur tonlos zurück. Mein Blick immer noch permanent auf
ihr liegend, fixiere ich ihren mir zugewandten und sich fatalerweise
langsam entfernenden Rücken.
„Wir
müssen ihr hinterher. Sonst verliere ich sie.“, kommentiere ich
seine, mich immer noch festhaltende Hand. Er scheint kurz zu
überlegen, geht dann aber abrupt mit mir hinter ihr her. Er spricht
fast flüsternd zu mir, während wir ihr folgen.
„Ich
habe dir bereits erklärt, dass du sicherlich innere Kräfte besitzt,
die dir in manchen Notsituation, aber auch genau wie jetzt bei einer
Jagd, helfen können. Du wirst es direkt ausprobieren müssen, zu was
du in der Lage bist und zu was nicht. Versuche sie zu umgarnen, ihr
zu schmeicheln. Lass deinen Charme spielen und sie wird dir folgen,
dich begleiten wo hin du auch möchtest. Unsere herausragendste
Clansfähigkeit ist die soziale Manipulation. Und gerade Menschen
sind unseren Talenten sehr erlegen. Es sind wohl unsere Augen, die
sie, bereits ohne unsere Kräfte aktiv anzuwenden, in ihren Bann
ziehen. Nutze das.”. Oh ja, Benedict, die Augen. Sehr gut erinnere
ich mich selber an das Gefühl des Ertrinkens, als ich die ersten
Male in die deinen blickte. Und
ich wirke jetzt auch so!
Schnell
laufen wir parallel zu ihr auf der anderen Straßenseite, ich kann
mich einfach nicht von ihr lösen. Ich will unbedingt, dass sie das
erste selbstbestimmte Blut auf meiner Zunge spendet.
„Wo
soll ich von ihr trinken?”, frage ich ohne den Blick zu meinem
Erzeuger zu richten.
„Du
hast einen Wagen mit Fahrer zur Verfügung, lass dir etwas einfallen.
Vermeide aber sämtliche Orte, die etwas mit deinem eigenen Dasein zu
tun haben. Keine privaten Räume, keine öffentlichen Bereiche
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