Memed mein Falke
Pluderhosen gingen von Laden zu Laden.
Unter Herzklopfen fragte er beim Garten des Rathauses einen Vorübergehenden nach dem Gefängnis. »Geradeaus weiter und dann durch das steinerne Tor«, war die Antwort.
Memed schritt durch das Tor. Im Hof stand ein Zug Gendarmen angetreten. Einen Augenblick lang trieb es ihn, umzukehren und in die Berge zu fliehen; es war ein zu seltsames Gefühl, so viele Gendarmen auf einmal vor sich zu haben.
Das einstöckige, moosbewachsene Haus ohne Fenster, vor dem einige Dorffrauen warteten, mußte das Gefängnis sein. Auf dem flachen Dach schritt ein Wachtposten auf und ab.
Memed machte seinen Rücken so krumm wie er nur konnte, um wie ein Halbwüchsiger zu erscheinen. Mit schweren Schritten ging er auf den Bau zu, der ganz dem Bild entsprach, das er sich aus vielen Erzählungen von einem Gefängnis gemacht hatte.
Ein übelgelaunter Aufseher fuhr ihn an: »Was hast du hier zu suchen, Junge?«
»M - meine Schwester ist hier drin ... «, druckste er heraus.
»Wer ist das?« fragte der Mann in strengem Ton. »Hatçe etwa?«
Memed senkte den Kopf »Ja, die ist es.«
»Hatçe!« brüllte der Aufseher, »Hatçe, dein Bruder ist da!«
Sie war verstört, als sie etwas von einem Bruder hörte, aber sie kam sofort heraus.
Memed war an der Wand zusammengesunken. Sein Gesicht war kreidebleich.
»Da ist er!« sagte der Aufseher.
Hatçe blieb wie angewurzelt stehen, als sie Memed erblickte. Sie brachte keinen Ton heraus. Sie taumelte ein paar Schritte, dann lehnte sie sich halb ohnmächtig an die Mauer. Lange standen sie nebeneinander, wortlos, Seite an Seite, als hätten sie beide die Sprache verloren. Sie sahen sich nur in die Augen.
Iraz kam dazu. Sie war verwundert, Hatçe so erschüttert zu sehen. Und warum sprachen die beiden nicht miteinander? »Willkommen, Junge«, sagte sie freundlich.
Memed murmelte etwas Unverständliches. Iraz fand zu allem keine Erklärung.
Gegen Mittag kam der Aufseher zurück. »So, genug jetzt. Auseinander mit euch!«
Memed bemühte sich beim Aufstehen wieder, so klein wie möglich zu erscheinen. Dabei zog er einen Beutel mit Geld aus der Tasche und warf ihn Hatçe in den Schoß. Er wandte sich um und ging.
Hatçe starrte ihm nach, bis er hinter dem steinernen Tor verschwunden war.
»Was ist denn nur, mein Mädchen?« fragte Iraz. »Wer war das?«
»Laß uns hineingehen, Tante Iraz«, stöhnte Hatçe. In der Zelle warf sie sich erschöpft auf ihr Bett.
»So sag doch, was ist?« drängte Iraz.
»Memed ... «
»Was?«
»Der Junge war Ince Memed.«
»Oh! Mögen meine Augen erblinden!« schrie Iraz und schlug sich auf die Brust. »Oh! Und ich habe unseren Löwen nicht einmal richtig angesehen! Die Augen sollen nur auslaufen!«
Tränenüberströmt hielten sie sich in den Armen.
Dann saßen sie nebeneinander auf dem Bett und lächelten sich an.
»Die Ebene von Yüreğir ... «, seufzte Hatçe. »Unser Haus!«
»Mit roter Erde verputze ich es ... und dreißig Dönüm Land. Ich lasse dich keine schwere Arbeit tun, Tante Iraz.«
Iraz widersprach: »Das Haus gehört uns allen. Also machen wir auch alle Arbeit gemeinsam.«
Sie waren jetzt von neuer Hoffnung beseelt. Seit Tagen sprach das ganze Gefängnis von einer Amnestie. Ein Abgeordneter sollte aus der Hauptstadt gekommen sein und angekündigt haben, daß schon in den allernächsten Monaten ein Amnestie-Gesetz erlassen werde.
Unter den Häftlingen liefen selbstverfaßte Lieder über die kommende Amnestie um. Ein alter Gefängnisinsasse, Mustafa Aga, galt unter seinen Mitgefangenen als der Klügste und Erfahrenste. Hatçe bestürmte ihn an jedem Tag, den Gott werden ließ, mit der gleichen Frage: »Sag, Onkel Mustafa, ob wohl auch Memed begnadigt wird, wenn sie die Gefängnisse leer machen?« Der Alte antwortete jedesmal: »Memed, nach dem fragst du? Selbst die wilden Tiere in den Bergen werden begnadigt!« Dann war sie einen Tag lang überglücklich.
Längst wußte sie von anderen Gefangenen, welche die Ebene von Yüreğir kannten, alles über diesen gesegneten Landstrich und seine Dörfer. »Wir siedeln uns in Karataş an, nicht wahr, Tante Iraz?«
Wenn Iraz dazu lächelnd genickt hatte, ging sie in den Männerbau hinüber, um sich von Mustafa Aga noch einmal bestätigen zu lassen, was sie schon so oft gehört hatte. Hatte der Alte dann zum soundsovielten Male wiederholt, die Amnestie zu Ehren der Regierung werde für alle und für jeden gelten, so huschte sie glückstrahlend zu der
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