Memed mein Falke
wartenden Iraz in die Zelle zurück.
Diesmal wußte Iraz etwas Neues: »Am Mittwoch bringen sie uns nach Kozan. Hier können sie uns nicht aburteilen, heißt es. Wenn nur die Straffreiheit noch vorher käme!«
Hatçe erschrak. »Ach, hätte ich doch mit Memed gesprochen! Meine Zunge war wie angebunden. Bis nach Kozan kann er ja nicht kommen.«
»Hätte ich nur geahnt, daß es Memed war ...«
»Heute ist Freitag. Noch fünf Tage. Könnte ich es nur Memed sagen.«
Memed war kaum bei Besinnung, als er das Gefängnis verlassen hatte. Es wurde ihm schwarz vor den Augen, er glaubte zu Boden zu stürzen. Mit knapper Not konnte er auf dem weißen Stein inmitten des Basarplatzes Halt suchen. Allmählich kam er wieder zu sich. Sein Blick fiel auf die kleinen Berge von Orangen und von Kohl, die auf dem Basar aufgetürmt waren. Schließlich schritt er über den Platz.
Vor Tevfiks Kaffeestube fiel ihm eine Gruppe von Männern in langen Filzumhängen auf. Alle trugen zweizinkige Grabschaufeln über der Schulter. Ein gedrungener Mensch mit einem Seidenschal um den Hals schimpfte auf sie ein, was das Zeug hielt. Also auch hier gibt es so etwas wie einen Abdi Aga, dachte Memed bei sich und blieb neugierig stehen. Die Männer mit den Werkzeugen ließen die Worte unbeweglich, mit gesenkten Köpfen, über sich ergehen. Plötzlich veränderte der kleine Mann seinen Ton. »Brüder, ihr seid mir lieber als mein Leben.«
Memed wußte nicht, was er davon halten sollte. Nun kam Bewegung in die Gruppe, die Männer entfernten sich mit langsamen Schritten auf den Fluß zu.
»Sie gehen auf die Reisfelder«, sagte jemand hinter ihm.
Der Kebab-Dampf aus einer der Kebabstuben erinnerte ihn daran, daß er schon lange nichts mehr gegessen hatte. Er trat ein. Es war die Garküche, in der er vor Jahr und Tag bei seinem ersten Besuch in der Stadt mit Mustafa eingekehrt war. »Mach schnell, Bruder!« rief er dem Bedienten zu.
»Schür das Feuer an!« sagte er zum Kebab-Brater.
Als Memed sich umblickte, traute er seinen Augen nicht. Furcht überlief ihn; er kniff die Augen zusammen und sah noch einmal zurück. Er hatte sich nicht getäuscht. Unmittelbar hinter ihm saß Ali der Hinkende. Hundert schlimme Gedanken flogen ihm durch den Kopf. Ali lächelte ihm verstohlen zu. Nachdem sie sich eine Weile schweigend angesehen hatten, stand Ali der Hinkende auf und kam zu Memeds Tisch.
»Du brauchst nicht zu erschrecken, Bruder«, flüsterte er Memed zu, »ich sage dir nachher, warum ich hier bin.«
Als sie gegessen hatten, gingen sie zusammen hinaus. Der Sirupverkäufer schlenderte mit seinem gelbglänzenden Behälter auf und ab. »Einen Sirup für mich«, sagte Memed.
Der Händler lachte, als er ihn mit scheuer Hand das Metall berühren sah. »Ja, das ist pures Gold, junger Mann!«
»Cabbar sagte, du seist in die Stadt gegangen«, berichtete Ali der Hinkende. »Da bin ich hierher geritten, so schnell ich konnte. Es soll ihm nichts zustoßen, habe ich mir gesagt. Am Gefängnistor habe ich lange auf dich gewartet. Was macht Hatçe? Geht es ihr gut? Aber wie kannst du dich nur ohne Pferd in die Stadt hinuntergetrauen, verrückter Kerl? Wenn du zu Fuß fliehen mußt, haben sie dich doch sofort! Deshalb bin ich also mit dem Pferd hinter dir her. Wenn dich einer erkennt, springst du auf und galoppierst in die Berge ... «
Memed kamen die Tränen in die Augen. »Wie soll ich dir das danken, Ali Aga?«
»Indem du in Zukunft besser auf der Hut bist, Bruder.«
»Darf ich dich noch um etwas bitten, Ali Aga?«
»Sprich nur.«
»Als ich mit Hatçe zusammen war, hat keiner von uns ein Wort herausgebracht. Ich kann es nicht ertragen, sie dort noch einmal zu sehen. Ich gehe nicht mehr hin. Dort ist mir einfach die Zunge gelähmt ... Würdest du zu ihr gehen und sie fragen, ob sie mir etwas zu sagen hat?«
»Gut, Memed«, sagte Ali der Hinkende. »Warte solange auf dem Basar. Der Gaul ist dort in der Ecke an dem Maulbeerbaum. Falls dir irgend etwas in die Quere kommt ... «
Memed ging langsam auf das Pferd zu. Die Herumstehenden warfen fragende Blicke auf den zerlumpten Dorfjungen, der so einfältig daherkam, als könne er nicht bis drei zählen. Er streichelte den eisengrauen, bläulich gescheckten Gaul, dann trat er in das Kaffeehaus und verlangte einen Tee. Hatçe fiel ihm ein. Wie sie sich verändert hatte, wie blaß sie geworden war! Ihr Gesicht war jetzt voller, aber der hoffnungslose Zug darin! Es zerriß ihm das Herz. Er starrte auf die
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