Memed mein Falke
Straße.
Ali kam zurück. Sein Gesicht verhieß nichts Gutes. Memed ging ihm entgegen.
»Was hat sie gesagt?«
»Frage lieber nicht.«
»Nun sag es schon. Daß es nichts Gutes sein kann, weiß ich. Ich habe die ganze Zeit solch ein elendes Gefühl gehabt ... «
»Am Mittwoch bringen sie Hatçe ins Gefängnis nach Kozan. Du sollst sie vergessen, sagt sie. Dorthin kommen nur solche, die zu vielen Jahren verurteilt werden. Iraz muß auch dorthin.«
Memed schien zunächst wie vom Blitz getroffen. Aber er hatte sich rasch wieder in der Gewalt. Er vergaß Ali und lächelte still vor sich hin. Plötzlich saß er auf dem Pferd. Die wenigen Augenblicke hatten ihn völlig verwandelt.
»Geh vor mir her, Ali Aga. Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe.«
Ali lief vor dem im Trab reitenden Memed her, aus der Stadt heraus, am Berg der Tausend Stiere vorbei, bis sie an die Stelle oberhalb Dikirli kamen, wo Osman aus Karacali jetzt seinen Orangengarten hat. Dort fiel Ali der Hinkende dem Pferd in die Zügel.
»Was ist denn nun? Heraus mit der Sprache!«
Memed stieg ab. »Ich werde sie den Gendarmen aus den Händen reißen.«
Ali der Hinkende geriet außer sich. »Bist du wahnsinnig? Mitten in der Çukurova, am hellichten Tage? Du hast den Verstand verloren!«
24
So froh hatten sie Memed noch nicht gesehen. Cabbar und Ali freuten sich über seine Veränderung. Er ging im Unterstand auf und ab und sang ausgelassene Lieder:
»Fünf Birnen hingen vom Zweig herab.
Der neue Morgen tagte bald
Weil Mutter ihr keine Decke gab
Wurden die weißen Brüste kalt.«
»Los, Ali!« rief er ungewohnt laut. »Nimm deine Saz und spiel uns eine lustige Melodie!«
Ali der Arme ließ eine übermütige Weise erklingen und sang dazu: »Ich kam ans Eisentor und fand es fest verschlossen mit Gold geflochten war das schwarze Haar ... «
Memed summte mit. Als er Ali den Hinkenden an der Tür stehen sah, hängte er sich bei ihm ein. »Ein Tanzlied!« befahl er dem Spielmann. Ali der Arme spielte auf, und die anderen wirbelten im Tanz durch den Raum, bis Memed sich atemlos gegen die Wand lehnte. Aber er war immer noch nicht zur Ruhe gekommen; seine Finger schlugen weiter den Takt zur Musik.
»Cabbar! Der Tag ist gekommen!«
»Was meinst du? Was für ein Tag?«
»Der Tag ist gekommen, sage ich dir, der Tag, uns als Männer zu erweisen ... «
»Ich bitte dich, sprich nicht in Rätseln!«
Memed erhob sich und vertauschte die zerrissenen Knabenkleider mit den eigenen. Seine Schuhe waren aus dickem, rissigem Maraş-Leder. Ihre Gummisohlen waren aus einem Autoreifen geschnitten. Die grobwollenen, kaffeebraunen Pluderhosen hatten sie einem Kaufmann abgenommen, der ihnen über den Weg gelaufen war. Nach dem Scharmützel mit der Bande des Verzinners hatten sie sich ein paar Wochen an der Straße nach Maraş in den Hinterhalt gelegt und Vorüberziehende ausgeplündert. Dabei hatten sie so gute Beute an Geld, Kleidung und Munition gemacht, daß sie beschlossen hatten, das einträgliche Geschäft bald wieder aufzunehmen. Sie hatten jetzt silberbeschlagene Leibgurte und Gewehrriemen. Den Fes trug Memed nun auch nicht mehr; statt dessen hatte er sich ein blaues Seidentuch um den Kopf geschlungen. Eine prächtige Pistole und die Tasche dazu, beides verziert mit kostbarer Goldarbeit, hatte der Yürüken-Aga ihm gesandt. Auch die goldbeschlagenen Patronengurte, die er kreuzweise auf der Brust trug, waren ein Geschenk Kerimoğlus.
Cabbar wurde ungeduldig. »Ali der Hinkende, sprich du wenigstens! Was ist denn nun los?«
Ali schmunzelte. »Am Mittwoch bringen sie Hatçe aus der Kreisstadt nach Kozan. Er hat sich in den Kopf gesetzt, sie unterwegs zu entführen. Deshalb ist er so guter Dinge.«
Cabbar gab keinen Laut von sich. Seine Miene wurde düster. Auch Ali der Arme schwieg. In solche Angelegenheiten pflegte er sich ohnehin nicht zu mischen.
Memed wußte, was das Schweigen zu bedeuten hatte. Er blieb gleichmütig. Hilfe erwartete er von niemandem. Sein Entschluß war gefaßt.
In den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft hatte Ali der Arme eine Ballade von Köroglu vorgetragen. Lange war sie Memed nicht aus dem Sinn gegangen. Sie kündete davon, wie aus dem jungen Köroglu der Held der Überlieferung geworden war:
Es war eines Tages in der Stadt Bolu, als Köroglu einen winzigen, nur eben handgroßen Hund auf der Straße sah. Vier oder fünf große, starke Hunde bedrängten ihn. Aber der Kleine hielt stand und wehrte sich so tapfer, daß die Angreifer einer nach dem
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