Memed mein Falke
ich je eine Waffe in die Hand genommen? Das mußt du doch genausogut wissen wie ich!«
Die alte Frau war betroffen von der Erbitterung ihrer Tochter. Noch keinen Augenblick war ihr zum Bewußtsein gekommen, daß Hatçe einer solchen Tat gar nicht fähig war.
»Wie kann ich das wissen, Tochter, wenn alle sagen, du seiest es gewesen! Ich will zum Bittschreiber gehen und ihn ein Gesuch aufsetzen lassen. Meine Tochter fürchtet sich vor Waffen, lasse ich schreiben. Abdi Aga hat mir sagen lassen, ich solle das ja nicht versuchen. Aber ich werde es dennoch tun, ohne daß er es erfährt. Und wenn er mich töten würde ...
Dich trifft keine Schuld, Tochter. Dieser Gottlose, der Ince Memed, hat es getan. Dir wollen sie es nur in die Schuhe schieben. Dieser Unselige hat uns ins Verderben gebracht. Ich lasse ein Gesuch für dich aufsetzen, meine Tochter, gleich gehe ich hin. Wenn der Bittschreiber meine Tränen sieht ... « Sie reichte Hatçe den Beutel mit Essen, den sie ihr aus dem Dorf mitgebracht hatte, durch das Fenster. »Ja, er soll alles aufschreiben, wenn die Regierung das liest, dann wird sie sehen, daß du unschuldig bist, mein Herzblatt. Das sind ja auch Menschen, sie werden dich schon nicht unschuldig schmachten lassen!«
Der Besuch der Mutter hatte ihr das Herz ein wenig leichter gemacht. Jetzt erst wurde sie gewahr, was sie alles aus dem Fenster erblicken konnte: das glänzende rote Ziegeldach eines neuen Hauses, dahinter die Kuppel einer Moschee und das wie ein Bleistift schlanke schneeweiße Minarett, noch weiter einen Feigenbaum mit seinen dickfleischigen Blättern und dann einen weiten, staubigen Hof mit hin und her gehenden Menschen. Memed hatte es so gut geschildert. Aber wie schön die roten Dachziegel leuchteten, davon hatte er nichts gesagt. Der Wärter öffnete die Tür.
»Du kannst herauskommen!« sagte er in strengem Ton. Je einmal mittags und abends durfte sie hinaus in die Luft. Bisher hatte sie es kaum wahrgenommen, wenn sie nach draußen geführt wurde. Nun lockte die Welt mit neuer Hoffnung.
Als sie aus dem Fenster schaute, riefen ihr ein paar Gefangene zu: »Nimm's nicht so schwer, Schwester! So ist der Lauf der Welt! Du hast es dem Kerl richtig besorgt, bravo! Sollst leben, Schwester! Hoch die wahre Liebe!«
Sie antwortete nicht, trat vom Fenster zurück in die Zelle. Ihre Gedanken gingen zu Memed.
Die Mutter machte sich zu Fahri auf, dem Bittschreiber, einem verdrehten Trunkenbold. Er war vor Jahren aus seinem Amt als Gerichtsschreiber gejagt worden, weil er Schmiergelder genommen hatte. Aber mit seiner jetzigen Tätigkeit verdiente er zwei- bis dreimal mehr. Man sagte ihm nach, er sei findiger als ein Advokat. Seine Bittschriften schrieb er nur in Trunkenheit, denn angetrunken war er immer.
Fahri döste, den Kopf auf dem schmutzigen Tisch mit der Schreibmaschine, vor sich hin. Raki-Geruch strömte von ihm aus. Als er Schritte hörte, hob er den Kopf. Er kannte den Schritt der Leute, die mit ihren Anliegen zu ihm kamen. Sein Tisch stand unter dem Vordach eines Fleischerladens, daher gingen immer Menschen an ihm vorüber. Er hob nie den Kopf von der Tischplatte, aber wenn er den vertrauten Bittstellerschritt auch nur von weitem hörte, wurde er sofort wach, richtete sich auf, sah dem Ankömmling ins Gesicht und ließ ihn seinen Kummer vorbringen.
»Na, dann erzähl mal«, sagte er zu Hatçes Mutter.
Die Frau hockte sich auf das Straßenpflaster, lehnte den Kopf an die Hauswand.
»Ach, bester Fahri Efendi«, stöhnte sie, »frage nicht, was uns alles zugestoßen ist!'
Der Schreiber kaute an seinem Bleistift.
»Bester Fahri Efendi, meine einzige Tochter, meine Hatçe ... Sie haben sie weggeholt und ins Gefängnis gesteckt. Mein schönes Töchterchen, mein Herzblatt schmachtet im Gefängnis!«
Fahri nahm langsam den Bleistift aus dem Mund. »So? Nun, dann erzähl mir mal, wie sie da hineingekommen ist.«
»Ja, bester Fahri Efendi, ich will dir alles erklären. Hör genau zu: Wir haben meine Tochter, meine hennageschminkte Tochter, meine wie ein Rebhuhn mit Henna geschminkte Tochter mit Veli verlobt, mit Abdi Agas Neffen. Und dann hat der Gottlose, der Ince Memed, Dönes vaterloser Sohn, etwas mit ihr angefangen, ohne daß wir davon wußten. Eines Nachts sind sie ausgerissen. Ali den Hinkenden kennst du gewiß, den Spurensucher? Den kennt ja jedermann. Dieser Gottlose setzt sich auf ihre Fährte und findet sie, wie sie sich unter einem Felsen lieben. Der Bursche zieht seine Pistole und schießt auf
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