Memed mein Falke
sie sich. »Die Sonne geht schon unter, meine hennageschminkte Tochter. Ich muß gehen.«
»Mutter!« schluchzte Hatçe.
Die Alte blieb mit nassen Augen stehen. »Gut«, sagte sie mit halberstickter Stimme, »ich will es versuchen. Dir zuliebe ... Ach, wie haben sie Memeds Mutter zugerichtet! Die arme Döne, ich glaube, sie wird sterben ... Leb wohl, mein Kind!« Sie ging. »Und mache dir nur keine Sorgen! Die Bittschrift ... «
Sie vertraute voll und ganz auf den Erfolg ihres Gesuches.
12
In der Dunkelheit konnte man keine Hand vor Augen sehen. Der Wald rauschte - eine pechschwarze, in die endlose Finsternis reichende Mauer. Weit weg, in Gipfelnähe, brannte ein Feuer. Sie tasteten sich mit ausgestreckten Armen geräuschvoll vorwärts, immer wieder stießen sie an die Bäume. Die Nacht duftete feucht nach Kiefern, Buchen, Mimosen, Wermutkraut, Belladonnalilien und Schweiß. Ein paar vereinzelte Sterne blinkten auf und verschwanden.
Monatelang hatten sie Häuser überfallen, Reisenden den Weg abgeschnitten, sich mit den Gendarmen herumgeschlagen, die sich jetzt nur noch Durdus Bande widmeten. Durdu der Tolle machte sich seinen Spaß mit ihnen. Schon nach kurzer Zeit hatte sich Memed unentbehrlich gemacht; der Bandenchef hielt große Stücke auf ihn, die Kameraden hatten ihn liebgewonnen.
Durdus Stimme kam aus dem Dunkel: »So! Hier bleiben wir. Zwei Tage lang haben wir Fersengeld gegeben. jetzt reicht es. Haaalt!«
Das war ein Befehl. Aber Memed trat neben ihn. »Nicht so laut, Aga!«
»Was soll das?« fragte Durdu ungehalten. Wenn es ein anderer gewesen wäre, hätte es ihm weniger ausgemacht. So ein Grünschnabel wollte ausgerechnet ihn lehren, wie sich ein Bandit zu verhalten habe!
»Und wenn der Feind nur eine Ameise wäre ... «, sagte Memed.
»Was dann?«
Memed schien den spöttischen Unterton nicht zu spüren. »Ich meine, man soll den Gegner nie unterschätzen.«
Durdu konnte nicht mehr an sich halten. »Oho, Ince Memed! Also hat dich Süleyman nicht als Kameraden zu uns gebracht? Den Stabschef willst du machen? Ich glaube, du kümmerst dich besser um deine eigene Sache, mein Junge.«
Links neben Memed ging Cabbar. Atemlos sagte er: »Er hat recht, Aga. Die kesseln uns ja ein, wenn wir im Wald bleiben! Sie sind uns dicht auf den Fersen, und wenn sie uns einkreisen, können sie uns abknallen wie Rebhühner. Sergeant Asim wartet schon lange auf so eine Gelegenheit.«
»Ja«, sagte Memed, »wie Rebhühner werden sie uns abknallen.«
»Schließlich sind nicht nur ein paar Gendarmen hinter uns her«, fügte Cabbar hinzu, »sondern auch die Bauern und die anderen Banden. Mit all denen können wir es nicht aufnehmen.«
»Das ist aussichtslos. Wir haben nicht einmal genug Munition.«
»Keinen Schritt mehr weiter!« befahl Durdu unbeeindruckt. Seine Stimme hallte durch den Wald. »Seit zwei Tagen sind wir auf der Flucht wie die räudigen Köter!«
Einer unter ihnen wurde »Sergeant Recep« genannt. Keiner wußte, wo er herkam, seit wann er dieses Räuberleben führte Keiner wagte ihn danach zu fragen. Man wußte, daß ihn ein neugieriges Wort so aufbrachte, daß er zu einem Mord fähig war. Wer ihn einmal gefragt hatte, den mied er. Er war über fünfzig. Das einzige, was man von ihm wußte, war, daß er zur Bande Ahmets des Mächtigen gehört hatte. Als die Amnestie kam und alle Bandenmitglieder sich der Polizei gestellt hatten, war er allein zwei Jahre lang in den Bergen geblieben. Als sich wieder Banden formierten, hatte er sich ihnen angeschlossen. Alle Banditen kannten und achteten ihn, denn er hatte allen Gruppen der Reihe nach angehört. Nirgends hielt es ihn lange. Heute stieß er zu Durdus Haufen, wenn ihm der Sinn danach stand, morgen ließ ihn eine Laune zu Durdus Todfeind übergehen. Niemals ließ er sich zu Geschwätz mit jemandem oder über andere herbei, keiner entlockte ihm ein unnötiges Wort. Er fand seinen Platz in jeder Bande, auch in der des Kurden Reşo ... Keiner fragte lange nach Woher und Wohin. Es war eine Ehre für jede Bande, ihn zu den Ihrigen zählen zu können. In all den Kniffen, die zu einem Räuberleben gehören, tat es ihm keiner gleich. Wenn er in einem Handgemenge dabei war, dann arbeiteten seine Hände wie ein Maschinengewehr.
Jetzt klang die Stimme dieses schweigsamen Mannes durch die Nacht: »Durdu, die Jungen haben recht. Wir müssen aus dem Wald heraus. Den Felsen entlang müssen wir uns halten.«
»Sergeant Recep«, rief Durdu, »nicht ein Schritt wird von hier
Weitere Kostenlose Bücher