Memed mein Falke
war nur halb bei Sinnen und hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was nun mit ihr geschehen werde. Ihre Füße strauchelten auf dem Weg. Nur einmal zuvor hatte sie das Dorf verlassen, um in die Fremde zu gehen. Da war der an ihrer Seite gewesen, dem ihre Liebe und ihr Vertrauen gehörten, und sie hatte ihren Weg und die Zukunft klar vor sich gesehen. Ein Feld unter der warmen Sonne, ein eigenes Nest ... Jetzt war nur noch Furcht und Verzweiflung in ihr. Nicht einmal ihre Mutter war gekommen, um ihr Lebewohl zu sagen, auch ihre Freundinnen nicht. Das war mehr, als sie ertragen konnte. Manchmal war sie nicht mehr imstande, etwas zu denken, zu fühlen oder zu sehen. Wenn sie dann wieder zur Besinnung kam und die beiden Gendarmen neben sich wahrnahm, durchschauerte es sie wie die Vorahnung von Schrecklichem. Jeder Schritt trug sie tiefer in ein trostloses Dunkel. Wie eine grausame, unbarmherzige Gewalt sah sie die Obrigkeit vor sich.
Am folgenden Tag erreichten sie die Stadt. So erschöpft Hatçe war, die neue Umgebung gab ihr ein wenig Sicherheit zurück, ihre Furcht ließ vorübergehend nach. Sie dachte an Memed, der ihr immer wieder von einem verwirrenden gelben Glanz erzählt hatte, von den Orangen, den hellen Pflastersteinen, dem Duft des Gebratenen, dem dahinströmenden Fluß ... Sie sah ein Zimmer aus Glas, das wie ein Storchennest auf einem Haus saß. In einem anderen Haus glühte eine Fensterscheibe unter den Sonnenstrahlen rot auf, da hatten sie wohl eine rote Scheibe eingesetzt ... Aber als Memed ihr wieder einfiel, erlosch ihre Neugier. Wo mochte Memed jetzt sein? Wenn sie ihn fingen, würden sie ihn töten. Nur um ihretwillen!
Der Boden der Haftzelle unter der Gendarmeriestation war aus Zement. Das Wasser, wer weiß, woher es kam, stand knöcheltief im Raum. Darüber hinaus stank die dunkle Zelle widerlich nach Abort. Ein Fenster gab es, groß wie eine Schießscharte, und auch das ließ sich nicht öffnen. Hatçe blieb hier für eine Nacht, die ebenso schlaflos war wie die vorige. Es war auch nichts im Raum, worauf sie hätte schlafen können. Sie versank in der Dunkelheit wie im Meer, sehnte mit allen Fasern den Augenblick herbei, in dem sie die Tür öffnen und ihr die Freiheit wiedergeben würden. Obwohl kein Lichtstrahl in die Zelle drang, spürte sie, daß es wieder Tag wurde.
Als die Tür aufging, fiel die Grelle des Tageslichts bleischwer auf sie. Ein Gendarm faßte sie am Arm, zog sie nach draußen. Vor dem Gebäude hatte sich eine Menschenansammlung gebildet. Die Leute starrten sie neugierig an. »Das ist das Mädchen, das seinen Bräutigam getötet hat«, hörte sie. Die Menschen waren also ihretwegen hier! Mit gesenktem Kopf ging sie durch die Gruppe.
Jetzt fürchtete sie die Gendarmen neben sich nicht mehr. Sie gaben ihr ein Gefühl der Sicherheit gegenüber den fremden Leuten.
Sie wurde einem ganz alten Richter vorgeführt, der sie zunächst fragte, wer sie sei und woher sie komme. Dann sagte er: »Du sollst Veli, Mustafas Sohn, erschossen haben. Stimmt das?«
»Allah ist mein Zeuge, daß ich Veli nicht getötet habe«, antwortete sie, voll Vertrauen in die Wahrheit. »Wie sollte ich denn jemanden töten? Ich getraue mich ja nicht einmal, eine Pistole in die Hand zu nehmen!«
Der Richter kannte sich gut mit den Bauern und den Frauen auf den Dörfern aus. Nicht umsonst hatte er in vielen Jahren Tausende von ihnen verhört. Es war ihm bald klar, daß Hatçe unschuldig war. Dennoch blieb ihm nichts anderes übrig, als sie zu verurteilen. Die Zeugenaussagen waren zu gewichtig.
Die Frauenzelle war erst nachträglich an das Gefängnis angebaut worden. Ihre Wände, deren Tünche abgeblättert war, trugen die Spuren zahlloser Stechmücken, die an ihnen totgeschlagen worden waren. Die Decke, die Dielen, Fenster und Balken, alles war in einem verrotteten, halbverfaulten Zustand. Es roch nach Moder und Urin.
Widerwillig brach sie ein Stückchen von dem Brot ab, das man ihr gebracht hatte. Sosehr sie auch kaute, sie brachte es nicht herunter, sie spie es wieder aus. Zwei Tage lang konnte sie nichts essen. Sie konnte sich nicht mit dieser furchtbaren Welt abfinden, in die sie so plötzlich geraten war wie in einen besonders schlimmen Traum.
Am dritten Tag tauchte ihre Mutter mit verweinten Augen am Gefängnisfenster auf.
»Tochter, meine Tochter! Was ist nur über dich gekommen? Ach, warum hast du ihn getötet?«
Hatçe sprach mit zorniger Auflehnung: »Was redest du da! Ich soll getötet haben? Habe
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