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Memed mein Falke

Memed mein Falke

Titel: Memed mein Falke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasar Kemal
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Leib und Magen schienen wie zusammengeklebt. Von draußen her drang ihr der Geruch von geschmolzener Butter und von gebratenen Zwiebeln in die Nase. Sie hörte es aufzischen, als das heiße, flüssige Fett in die Suppe gegossen wurde.
Hatçe kam herein, stellte die Schale vor sie hin. Der Holzlöffel, den sie ihr gegeben hatte, lag fremd in ihrer Hand, als wüßte sie nichts damit anzufangen.
»Komm Tante, iß doch!« mahnte das Mädchen.
Ganz langsam tauchte Iraz den Löffel in die Suppe.
Als sie gegessen hatte, begann Hatçe wieder: »Da in der Schnabelkanne ist Wasser, Tante. Wasch dir das Gesicht. Das wird dir guttun.« Iraz befolgte den Rat.
»Hab Dank, schönes Mädchen! Allah lasse dich an das Ziel deiner Wünsche gelangen!«
»Ach ja«, seufzte Hatçe, »wenn es nur wahr würde ... « Dann setzte sie sich und schüttete Iraz ihr eigenes Herz aus.
»Jetzt bin ich neun Monate hier, Tante. Keiner kommt und sieht nach mir, selbst meine Mutter war nur ein einziges Mal da. Wenn ich nur etwas von meinem Memed wüßte, sonst wünsche ich mir nichts in der Welt.
Ach ja, Tantchen, die ersten Tage habe ich auch hungrig in diesem Loch gelegen. Später habe ich für die Gefangenen Wäsche gewaschen. Ach, mögen sie mich aufhängen, es ist mir gleich! Aber wenigstens eine Nachricht von Memed sollte kommen, ob er lebt oder tot ist!«
Iraz erholte sich allmählich von ihrer dumpfen Apathie. Andere Verurteilte machten ihr klar, daß ihre Aussagen einen schweren Fehler enthalten hatten. Sie hätte nicht sagen dürfen, daß sie die Tür aufbrechen wollte, um die Hausbewohner zu erschlagen, daß sie das Haus angezündet hatte, um die Menschen dann verbrennen zu lassen. Und wenn zehn Söhne ermordet worden wären, ohne einen klaren Beweis, ohne einen Tatzeugen gab es keine gesetzliche Handhabe, den Mörder zu fassen. Auch das erfuhr sie; sie brauchte lange, es zu begreifen. Bei ihren späteren Vernehmungen vor Gericht leugnete sie alles ab.
»Wenn ich nur draußen wäre«, seufzte sie, »ich würde der Obrigkeit schon beweisen, daß Ali meinen Sohn getötet hat.«
Hatçe sprach ihr Mut zu: »Wenn Allah will, wirst du freikommen, Tante Iraz, und dafür sorgen, daß der Mörder seine Strafe erhält. Sieh nur, ich bin noch so jung und muß hier auf ewig verfaulen! Alle sagen sie gegen mich aus.«
Mit der Zeit wuchsen Iraz und Hatçe zusammen wie Mutter und Tochter. Sie trugen ihren Kummer gemeinsam. Hatçe wußte nun alles über Riza, seinen stolzen Wuchs, seine schwarzen Augen, seine Finger so fein wie Bleistifte, seine Meisterschaft im Halay-Tanz, die Erlebnisse seiner Kindheit, die Fronarbeit, unter der Iraz ihn großgezogen hatte. Sie kannte den Streit über den Acker und Rizas tragisches Ende in allen Einzelheiten, so als hätte sie alles selbst miterlebt. Und Iraz wußte alles über Memed, von der Zeit an, als er und Hatçe als Kinder zusammen gespielt hatten ...
Schließlich konzentrierte sich ihre gemeinsame Sorge und Hoffnung ganz auf ihn und sein ungewisses Schicksal.
Die beiden Frauen verbrachten jeden Tag bis in die Nacht hinein mit Strümpfestricken, bis ihre Augen vor Erschöpfung nichts mehr sahen. Ihre Strümpfe machten in der Kreisstadt von sich reden. »Die Strümpfe des Mädchens, das ihren Verlobten getötet hat, und der Frau, deren Sohn erschossen wurde ... « Die selbstgeschaffenen Muster, mit denen sie sie bestickten, sprachen so beredt von ihrem Leid wie die lauteste Klage. Die Farben waren schwermütiger, herber, als man es je gesehen hatte. Alle Menschen sprachen von der bewegenden trauervollen Schönheit der Strümpfe.
Der Unglückliche, der zum ersten Mal in ein Gefängnis kommt, fühlt sich so verloren, als sei er aus der Welt ausgesperrt. Alle Bande, die ihn an sein Zuhause, an seine Lieben, an alle vertrauten Dinge ketteten, sind gewaltsam zerrissen, und er versinkt in eine tiefe, beklemmende Leere. Und dann erfüllt ihn ein Gefühl, als ob ihm alles, was um ihn ist - Boden und Wände, das Stückchen Himmel, das er sehen kann, die Tür und das vergitterte Fenster - feindselig entgegenblicken. Wenn er kein Geld hat, so ist er dazu verdammt, in seinem Winkel hoffnungslos vor sich hin zu vegetieren.
Hatçe und Iraz wußten, warum sie sich Tag und Nacht mit der Strickarbeit abquälten. Von dem Geld, das sie damit verdienten, rührten sie keinen Kuruş an. Monatelang lebten sie von den kargen Rationen, die ihnen der Aufseher brachte.
Irgendwann, vielleicht schon morgen, vielleicht in einem Monat, würde

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