Memed mein Falke
Memed kommen, denn eines Tages würden sie ihn einfangen und hierherbringen. Dann würde er Geld nötig haben. Also gönnten sie ihren Augen keine Ruhepause.
»Unser Memed wird es hier nicht so schwer haben wie wir, mein Mädchen. Dafür sind wir jetzt da«, sagte Iraz.
»Ja, dafür sind wir da, Tante«, erwiderte Hatçe mit Stolz in der Stimme.
Immer häufiger ließ Hatçe zornig ihrer Enttäuschung über ihre Mutter freien Lauf »Ist das vielleicht eine Mutter? ‚Ich flehe dich auf den Knien an', hab ich zu ihr gesagt, ‚bringe nur eine Nachricht von Memed, sonst habe ich keinen Wunsch!' Und sie? Weggegangen ist sie und hat sich nicht mehr blicken lassen!«
»Wer weiß«, meinte Iraz, »was mag ihr nur zugestoßen sein, deiner armen Mutter?«
Wie immer gingen sie um Mitternacht in ihre Betten, die kalt und feucht waren wie der ganze Raum. Das Nachtgetier schwirrte. Damit ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen sollten, rieben sie sie leicht.
»Tante Iraz ... «, murmelte Hatçe. »Was ist?«
Auf diese Weise fingen sie Abend für Abend ihre Gespräche an.
»Es ist naß.«
»Was können wir tun dagegen?«
»Verdient meine Mutter den Namen Mutter?« klagte sie. »Was mag ihr nur zugestoßen sein?« erwiderte Iraz.
Hatçe kam vom Hundertsten ins Tausendste.
»Ein eigenes kleines Häuschen wollten wir haben, in Yüreğir in der Çukurova ... Memed wollte als Tagelöhner anfangen. Später wollten wir uns ein kleines Feld kaufen. So hat Memed mir's immer gesagt ... «
»Ihr seid ja noch so jung! Das kann alles noch Wirklichkeit werden«, sagte Iraz tröstend.
»In die Kebabstube wollte er mich führen, in der Stadt ... «
»Er wird dich schon noch hinführen!«
Bei diesen Gesprächen gerieten sie ins Träumen, sie vergaßen, daß sie im Gefängnis waren, daß Memed als ein Gejagter irgendwo in der Wildnis umherstreifte.
»Der Boden von Yüreğir ... «, seufzte Hatçe, »warm ist er, sonnig. Die Frucht steht so dicht, daß kein Tiger hindurch könnte. Unser Feld ist dreißig Dönüm groß. Halb Weizen und halb Gerste haben wir gesät ... «
Iraz träumte mit. »Und zwischen dem Weizen ein Viertel Dönüm Zwiebeln ... «
»Innen habe ich das Haus mit grüner Tonerde verputzt ... «
»Auch mit roter ... «
»Eine Kuh haben wir, eine rötliche, mit großen Augen. Und auch ein Kälbchen von ihr.«
Iraz schwieg, und Hatçe fuhr fort: »Mein Haus ist auch dein Haus. Memed ist dein Sohn, ich bin deine Tochter.«
»Du bist meine Tochter.«
»Vor unserem Haus steht ein Weidenbaum. Seine langen Zweige reichen bis auf den Boden ... «
»Rings um unseren Blumengarten ziehen wir Hecken ... «
Hatçe kam zu sich wie aus tiefem Schlaf »Wann werden sie wohl Memed hierherbringen, Tante?«
»Morgen oder irgendwann bald ... «
»Wir haben ja gut vorgesorgt für ihn, nicht, Tante?«
»Ja, wir sind bereit für ihn. Geld haben wir genug.« Erst wenn sie an dieser Stelle ihrer allnächtlichen Gespräche angekommen waren, waren sie getröstet und beruhigt genug, um schlafen zu können.
Freitags, wenn Markt in der Kreisstadt war, spähte Hatçe besonders gespannt auf die Straßen hinaus. Wenn ihre Mutter käme, dann würde sie an einem Freitag kommen. Auch heute war sie wieder einmal vor Morgengrauen erwacht.
Gegen Mittag ging eine hochgewachsene Frau, einen ledernen Doppelsack über der Schulter, furchtsam auf das Gefängnis zu. »Tante Iraz!« schrie Hatçe auf.
»Was ist denn, mein Mädchen?« Iraz eilte erschrocken herbei.
»Meine Mutter!«
Sie standen nebeneinander, schauten auf die Straße, der alten Frau entgegen, die, den Kopf zu Boden gesenkt, müde auf nackten Füßen daherhumpelte, die Enden ihres schwarzen handbemalten Kopftuches zwischen den Zähnen. Vor dem Gefängnistor blieb sie stehen.
»Was willst du, Frau?« rief der ausgemergelte, immer vor Nervosität zitternde Aufseher heraus.
»Meine Tochter ist hier ... «
»Mutter!« rief Hatçe.
Die Alte hob langsam den Kopf, sah den Wächter an. »Das ist sie, Bruder Efendi.«
»Gut, du kannst mit ihr sprechen.«
Sie setzte ihre Traglast ab und ließ sich auf den Boden nieder, den Rücken gegen die Wand stützend. »Oh, meine Knochen!«
Hatçe stand stumm da, schaute auf ihre Mutter. Die Füße der alten Frau waren aufgerissen, auf den wunden Stellen klebte dick der Staub. Ihre Haare waren weiß bestäubt, schmutzvermengter Schweiß rann ihr vom Hals herab. Augenbrauen und Wimpern waren ganz unter der Staubschicht verschwunden. Das schmutzige, zerrissene Gewand schlotterte ihr um
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