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Memed mein Falke

Memed mein Falke

Titel: Memed mein Falke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasar Kemal
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unglückseligen Ort geraten war. Für ihr Leben gern hätte sie die fremde Frau gefragt, wo sie herkomme und warum sie hier sei, aber angesichts ihrer apathischen Hoffnungslosigkeit konnte sie die Fremde nur stumm anblicken.
Am Abend kochte sie im Gang vor der Zelle eine Suppe. Dann trat sie mit dem Topf, aus dem der Geruch von Zwiebeln und ranzigem Fett dampfte, scheu an die Frau heran. »Du bist gewiß hungrig, Tante. Iß ein wenig Suppe.«
Iraz starrte mit leeren Augen, wie eine Blinde. Furchtsam wiederholte Hatçe: »Tante, iß ein wenig Suppe, nur ein bißchen. Du bist sicher sehr hungrig.«
Die andere gab kein Lebenszeichen von sich. Hatçe stieß sie leise an. »Tante!«
Ganz langsam kamen die leeren Augen zu sich und hefteten sich auf Hatçe, die nun erschrak. Diesen Blick konnte sie nicht aushalten. Sie wollte etwas sagen. Aber sie brachte nur ein sinnloses Stammeln heraus, stellte das Gefäß vor die Frau hin und stürzte nach draußen, schwer atmend vor Furcht.
Hatçe kehrte wieder in die Zelle zurück, als der Aufseher kam, um abzuschließen. Dann legte sie sich sofort ins Bett, um diesem Blick nicht wieder begegnen zu müssen. Als es dunkel geworden war, wagte sie nicht aufzustehen und Licht zu machen, wie sie es sonst allabendlich tat. Auch vor der Dunkelheit war ihr angst; aber es war weniger schlimm, als dieses Antlitz an der Grenze zwischen Leben und Tod sehen zu müssen.
In dieser Nacht konnte sie kein Auge zutun. Als das erste Morgenlicht durch das Fenster drang, stand sie auf. Die andere klebte in ihrem Winkel an der Wand wie ein leichter Schatten, bewegungslos. Das weiße Kopftuch hob sich wie ein Loch von der schmutzigen Wand ab.
Am Mittag saß sie noch genauso da. Auch am Abend hatte sich nichts in ihrer Haltung verändert. Hatçe mußte noch eine weitere Nacht in unruhigem Halbschlaf verbringen. Am folgenden Morgen erhob sie sich entschlossen und ging auf Iraz zu.
»Ich flehe dich an, Tante! So darfst du nicht weitermachen!« Sie ergriff ihre Hände. »Bitte, bitte nicht!«
Die Frau richtete ihre erloschenen Augen groß auf sie.
»Erzähl mir deinen Kummer, Tante«, drang Hatçe in sie. »Jeder, der hier hineingerät, hat seine Last zu tragen. Glaubst du das denn nicht?«
»Was sprichst du, Mädchen?« wimmerte Iraz.
Hatçe war glücklich, daß ihre Gefährtin endlich den Mund aufgetan hatte. Ein Stein war ihr vom Herzen gefallen.
»Warum bist du nur so, Tante? Seit du hier bist, hast du kein Wort gesprochen, keinen Bissen angerührt.«
»Mein Sohn war ein ganzes Land wert, der Stolz des Dorfes. War es vielleicht zuviel?«
Sie verstummte wieder.
»Seit du da bist, habe ich mein eigenes Leid ganz vergessen. Was ist dir nur widerfahren, Tante? Willst du es mir nicht anvertrauen?«
»Wenn ich denen, die meinen Sohn umgebracht haben, das Haus anzünde, wenn ich ihnen die Tür einbreche und sie alle totschlage, ist das vielleicht zuviel?«
»Schande über sie!« sagte Hatçe, »Blindheit soll sie alle treffen!«
Iraz wiederholte die gleichen Worte immer wieder. Hatçe antwortete mit bedauernden Klagerufen und mit Verwünschungen.
»Jetzt haben sie mich hier eingesperrt, und der Mörder meines Sohnes spaziert frech im Dorf umher. Wozu soll ich da noch weiterleben?«
»Tante, du bist halbtot vor Hunger. Seit du hier bist, hast du nichts gegessen. Ich will dir eine Suppe kochen.«
Ein paar Wochen nach ihrer Einlieferung hatte Hatçe begonnen, den Mitgefangenen, die Geld hatten, ihre Wäsche zu waschen. So hatte sie sich ein paar Kuruş zusammensparen können. Jetzt rief sie das kleine Mädchen, das für die Gefangenen zum Basar ging und ihre Besorgungen erledigte. Sie drückte dem Kind ein Fünfzig-Kuruş-Stück in die Hand und trug ihm auf, Butter zu holen. Es sollte eine besonders gute Suppe werden. Sie war außer sich vor Freude. Die Frau hatte die Sprache wiedergefunden. Wenn ein Mensch spricht, dann ist die Gefahr, daß er an seinem Kummer zugrunde geht, schon halbwegs überwunden. Wenn ein Mensch nicht redet und sich verschließt, dann ist sein Ende verhängnisvoll. Deshalb freute sie sich. Während nun Hatçe den kleinen Herd mit Kohlen füllte, gingen ihr alle Lieder, die sie kannte, durch den Kopf, eines nach dem anderen. Sie fächelte und blies, bis endlich die Kohlen rot zu glühen begannen. Die Suppe in dem kleinen, verzinnten Topf kochte bald. Daß sie so schnell kochte, überraschte Hatçe.
Als Iraz das Wort »Suppe« gehört hatte, war ihr ein jäher Schmerz durch den Leib gefahren;

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