Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
kleinen Fäden gesprossen sind, richtigen Tentakeln. Andere wurden so lange gelagert, dass ihnen violette, klauenartige Verdickungen gewachsen sind – als wollten sie sich in Bestien verwandeln und davonkriechen. Doch Lyda hat nichts gegen diese Arbeit. Sind sie erst einmal von der Schale befreit, sind alle Kartoffeln hellweiß und glitschig. Wie Fische flutschen sie ihr aus den Fingern in den Eimer, der gefüllt und zum Dünsten geschleppt werden soll. Bis auf das leise Klappern und Kratzen der Schälmesser ist es still.
Als Mutter Hestra im leeren Türrahmen der Fabrik auftaucht, verknotet sich ihr Magen. Den ganzen Morgen hat Mutter Hestra darauf gewartet, Unserer Guten Mutter eine Bitte vortragen zu dürfen – die Bitte, Lyda und sie allein zu empfangen, in einer dringenden Privatangelegenheit. Normalerweise werden Bitten um Einzeltermine abgelehnt. Unsere Gute Mutter glaubt an Solidarität. Jede Neuigkeit sollte von der gesamten Gruppe zugleich aufgenommen werden. Eine Welle kann über ein Individuum hereinbrechen und es ins Meer hinausspülen. Doch wenn wir zusammenstehen, treibt es uns gemeinsam hinauf und hinab, und die Welle ist nur ein Plätschern.
Lyda hat eine Heidenangst vor Unserer Guten Mutter. Am liebsten würde sie gar nicht erst mit ihr sprechen.
Doch in Mutter Hestras Gesicht spiegelt sich ein stiller Triumph, und selbst Syden wirkt glücklich. »Lyda kommt mit mir«, sagt sie zu Mutter Egan. »Auf Anordnung von höchster Stelle.«
»So was«, erwidert Mutter Egan. »Von höchster Stelle?«
Mutter Hestra nickt.
»Na gut. Lyda? Du hast die Mutter gehört. Geh.« Mutter Egan trägt die Verantwortung fürs Kartoffelschälen. Durch ihre trockene, dunkle, von ein paar Pocken gesprenkelte Haut hat sie selbst Ähnlichkeit mit einer Kartoffel. Sie hat kein Kind bei sich; ihre Kinder hat sie durch die Bomben verloren. Beim Aufstehen hebt Lyda den Saum ihrer Schürze, um die Schalen nicht fallen zu lassen, beugt sich über den Müll und wischt die Pellen in den Eimer. Zuletzt rückt sie noch ihren Stuhl an die Wand.
Inzwischen wird sie von allen Müttern angestarrt, auch von den Kindern. Doch daran hat sie sich gewöhnt. Es erfüllt die Mütter mit Stolz, eine Reine unter sich zu haben, aber auch mit Hass. Sie denken, Lyda wüsste nicht, was Leid ist. »Du bist aber eine Hübsche«, flüstern sie ihr manchmal zu, »was für helle Haut du hast!« Komplimente in vergiftetem Tonfall. Einmal hat ein Zettel auf ihrem Kopfkissen gelegen: Geh zurück. Solche wie dich brauchen wir hier nicht. Und als Mutter Egan ihr zum ersten Mal ein Schälmesser in die Hand gedrückt hat, hat sie gesagt: »Aber Vorsicht! Wäre doch schade, die cremige Haut einer Reinen zu verunstalten.«
In solchen Momenten vermisst Lyda Pressia. Obwohl sie sich nicht mal richtig kennengelernt haben, haben sie in kurzer Zeit viel miteinander durchgemacht, und Pressia hat Lyda ihre Herkunft nie vorgehalten. Könnte sie Pressia von ihrer Schwangerschaft erzählen, hätte sie eine echte Freundin, eine, der sie vertrauen könnte. Aber sie weiß nicht mal, wo Pressia ist.
Auch Illia vermisst sie. Ihre Geschichten haben sie in eine andere Welt versetzt, so seltsam und düster sie auch waren. Und sie schienen Lehren zu enthalten, wie sie von Müttern an Töchter weitergegeben werden.
Als Lyda den weitläufigen Raum verlässt, spürt sie die Blicke der anderen im Rücken. Was sie wohl denken werden, wenn ihre Schwangerschaft ans Licht kommt? Bestimmt wird ihr Hass weiter wachsen – weil sie so sorglos und dumm war, sich einem Jungen hinzugeben, ohne nachzudenken. Sie werden sie für eine Schlampe halten. Schlampe. Das Wort hat Lyda schon öfter gehört. In der Mädchenakademie wurden drei Schülerinnen hinter ihrem Rücken als Schlampe bezeichnet. Sie landeten im Therapiezentrum und kehrten erst nach langer Zeit zurück, mit trübem Blick und glänzenden Perücken auf dem Kopf, bis ihr Haar nachgewachsen war. Wie wird die Strafe der Mütter ausfallen?
Es ist ein bedeckter Tag mit dunkelgrauem Himmel. Die Wolkenränder wirken noch fahler als sonst.
»Hast du es ihr gesagt?«, fragt Lyda Mutter Hestra.
»Du musst es ihr selbst sagen. Aber sie weiß, dass du ihr etwas zu sagen hast.«
»Wird sie mich rauswerfen? Das würde sie einer werdenden Mutter doch nicht antun, oder?«
Nach ein paar Sekunden Schweigen seufzt Mutter Hestra. »Sie ist undurchschaubar. Aber es ist gut, dass wir es ihr zunächst allein sagen können.«
Sie passieren
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