Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
den Friedhof. Auf einmal wünschte Lyda, sie hätte die Spieluhr zurück. Sie weiß, dass dieser Wunsch falsch ist. Partridge ist weg.
Schließlich erreichen sie das Gebäude, das den Tankraum beherbergt – das Quartier Unserer Guten Mutter. Vor der Tür stehen zwei schwer bewaffnete Wachen. Die Frauen tragen keine simplen Speere, Pfeile oder Messer. Statt ihrer alten Lieblingswaffen haben sie Kanonen im Halfter, die sie von Kellerjungs erbeutet haben.
»Ich bringe Lyda«, sagt Mutter Hestra. »Auf höchsten Befehl.«
Die Wachen gewähren ihnen Einlass.
In der Mitte des Raums erhebt sich der Tank selbst, eine Art riesiger Metallkessel unter einer hohen Decke. Dahinter steht der Thron Unserer Guten Mutter, doch heute sitzt sie nicht auf dem Thron – sie liegt auf dem Rücken auf einem Feldbett, während eine andere Mutter an ihrem Hals zerrt. »Tief einatmen und Luft anhalten«, sagt die andere Mutter. »Bereit?«
Die Augen Unserer Guten Mutter fallen zu. Sie nickt.
Mit einem Ruck reißt die Mutter den Kopf Unserer Guten Mutter herum. Als ihr Nacken knackt, seufzt sie. »Danke.«
Die andere Mutter richtet sich auf. Auf ihrer Hüfte sitzt ein Kind, dessen Kopf an ihrer Brust ruht. Sie entdeckt Lyda und Mutter Hestra. »Du hast Besuch.«
Unsere Gute Mutter blickt herüber. »Ja. Ich habe sie herbestellt.« Statt aufzustehen, wie Lyda es erwartet, bleibt sie liegen. Da ihre Arme trotz der Kälte unbedeckt sind, kann Lyda den Babymund in ihrem Bizeps deutlich erkennen. An den Lippen, die kleine Saugbewegungen machen, hängt etwas Speichel. »Sprich«, verlangt Unsere Gute Mutter.
»Lyda hat dringende Neuigkeiten …«, fängt Mutter Hestra an.
»Dich habe ich nicht gemeint«, fällt Unsere Gute Mutter ihr ins Wort. Sie liegt absolut reglos da, die Augen wieder geschlossen. Lyda sieht, wie sich das harte Metall des Fensterkreuzes in ihrer Brust im Einklang mit ihrer Atmung hebt und senkt. »Lyda. Sag mir, was es so Dringendes zu sagen gibt.«
Lyda tritt einen kleinen Schritt vor. »Ich weiß nicht, wie …«
»Gibt es Neuigkeiten aus dem Kapitol? Hat er dich kontaktiert?«
»Partridge?«
»Wer sonst?«
»Nein«, antwortet Lyda. »Ich glaube, das kann er gar nicht.«
»Also hat er dich endgültig verlassen?«
Sie zögert. »So könnte man es wohl ausdrücken.«
»Das ist nichts Neues. Ein Toter ist ein Toter. So sind sie nun mal. Irgendwann gehen sie.«
Lyda dreht sich zu Mutter Hestra um. Sag’s ihr , mahnt Mutter Hestras Blick. Jetzt.
»Aber davor …«, sagt Lyda. »Bevor er gegangen ist …«
Unsere Gute Mutter öffnet die Augen.
Und Lyda atmet tief ein. »Bevor er gegangen ist, als wir geflohen sind, als die Spezialkräfte überall waren und …«
Unsere Gute Mutter stemmt sich hoch, bis sie aufrecht auf dem Feldbett sitzt, und betrachtet sie mit zusammengekniffenen Augen. Ihr Gesicht ist durchzogen von den kleinen Gräben unzähliger Falten.
»Auf der Flucht waren wir ganz allein. Und dann war da das Haus des Gefängnisdirektors. Es hatte kein Dach mehr und …«
»Sag mir, was in dem Haus passiert ist.«
»Wir waren im obersten Stockwerk. Über uns war nur noch Himmel. Und da war ein altes Bett. Nur noch das Gestell. Ein Himmelbett aus Messing …«
»Was hat er dir im Haus des Gefängnisdirektors angetan, Lyda?«
Lyda schüttelt den Kopf. Sie weiß, dass sie gleich weinen muss. Ihre Finger verknoten sich. »Er hat mir nichts angetan. Es war ganz anders …«
»Willst du mir sagen, dass er dich vergewaltigt hat?«
»Nein!«
Unsere Gute Mutter steht auf. »Doch. Du willst mir sagen, dass er dich aus Mutter Hestras Obhut entführt und zum Haus des Gefängnisdirektors gebracht hat, wo niemand deine Schreie hören konnte.« Sie stellt sich dicht vor Lyda. »Und dann hat er dich vergewaltigt.«
»Das stimmt nicht! Er hat mich nicht vergewaltigt. Es war ganz anders.«
Unsere Gute Mutter verpasst ihr eine Ohrfeige – so plötzlich und kräftig, dass es zunächst nicht mal wehtut, sondern nur ein wenig brennt. Erst nach und nach kriecht ein heißes Stechen über Lydas Wange. Als sie die Hand ausstreckt, um sich abzustützen, ist Mutter Hestra sofort bei ihr.
»Du wirst nie wieder für einen Toten Partei ergreifen«, faucht Unsere Gute Mutter. »Nicht hier. Nicht vor mir.« Sie fährt herum und geht zur Wand, hebt die Fäuste und prügelt auf die Mauer ein, bis sie vor Schmerz wimmert. Dann steht sie da wie erstarrt, mit hängendem Kopf.
»Sie ist schwanger«, flüstert Mutter
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