Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
Uniformen mit Spitzenkragen aus gekräuselter Haut am Flussufer spuken. Die Spitzenkragen – ein so absurdes, spezielles Detail, dass es gar nicht erfunden sein kann. Sie versucht, sich eine schönere Geschichte für Wilda auszudenken, doch das Mädchen atmet bereits immer tiefer. Träume lassen ihre Lider flattern. Was sie wohl für Träume hat? Sie war im Kapitol, sie ist aus dem Kapitol zurückgekehrt. Was hat sie dort gesehen? Ein Lächeln huscht über Wildas Lippen und verschwindet wieder. Sie klammert sich nicht mehr ganz so fest an die Puppe. Als Pressia eine Hand auf ihre Finger legt, spürt sie eine leichte Vibration. Eine Vibration, die nicht von der holprigen Fahrt herrührt. Ein Zittern in Wildas Innerem.
Sie denkt an Willux, an seine bebenden Hände – eine Folge jahrelanger Hirnkapazitätssteigerungen, die ihn hoffentlich bald das Leben kosten wird –, und eine Erinnerung trifft sie wie ein sengender Blitz: Sie erinnert sich, wie sie ihre Mutter im Bunker gefragt hat, warum sie sie nicht behandelt hatte, um sie gegen Codierungen zu impfen, und warum sie und die anderen ihre neuentwickelten Substanzen nicht ins Trinkwasser eingespeist hatten. Ihre Mutter meinte, die Dosierungen, die für Erwachsene erforderlich waren, hätten Kinder umbringen können. Deshalb konnte sie Partridge nur gegen eine Art der Codierung impfen; sie entschied sich für die Verhaltenscodierung, da sie wollte, dass er über seinen eigenen Willen bestimmen kann. Und Pressia? Sie war jünger. Es war zu gefährlich.
Was haben sie Wilda angetan, um sie zu einer Reinen zu machen? Ist das Heilmittel nur eine neue Krankheit, genau wie Willux’ Schnelle Zelldegeneration? Bringt es ihren Körper zum Zusammenbruch? Und ist das Zittern ein erstes Symptom?
***
Eine Stunde später hält Bradwell zwischen zwei eingestürzten Häusern auf einem Hügel am Rand der Meltlands. Von hier aus haben sie einen guten Blick auf die Fußabdrücke der Betonfundamente und die rissigen Betongruben, die von den Swimmingpools geblieben sind – manche kreisrund, andere oval oder nierenförmig –, auf die ausgebrannten Metallskelette der Autos und die zerflossenen Klumpen der geschmolzenen Spielgeräte. Weiter hinten gehen die halbkreisförmigen Straßen in die Staubwüste der Deadlands über.
Bradwell steigt aus und geht vor dem Wagen auf und ab. Auch El Capitán und Helmud klettern ins Freie. Während sie auf der Motorhaube hocken, bleibt Pressia bei Wilda, die immer noch schläft, die Arme vor der Brust verschränkt. Manchmal fröstelt sie ganz leicht. Doch dann regt sie sich, schnellt hoch und sagt: »Der lebende Beweis, dass wir euch alle retten können?« Sie blickt aus dem Fenster.
»Wir warten auf Hilfe«, antwortet Pressia. Das Mädchen greift nach dem Türöffner und zieht ihn nach hinten. »Willst du dich ein bisschen umgucken?«
Als Wilda nickt, entriegelt Pressia die Tür. Sie steigen aus und blicken auf die Meltlands hinab. Rußschwaden ziehen über die Landschaft wie dunkle, wallende Bettlaken. »Sind sie schon in Sicht?«, fragt Pressia.
»Noch nicht«, erwidert Bradwell.
»Die Frage ist, ob sie als Beschützerinnen oder als Kriegerinnen kommen«, bemerkt El Capitán. »Bei den Müttern kann man nie wissen.«
Wilda wandert auf eines der eingestürzten Häuser zu.
»Sagt Bescheid, wenn sie auftauchen!«, ruft Pressia und folgt ihr.
Alle drei nicken, auch Helmud, der weiter auf die Meltlands hinabblickt.
Pressia bleibt dicht hinter Wilda. Auf der Rückseite des Hauses stoßen sie auf den Betonabdruck eines Swimmingpools. Im tiefen Ende des Beckens türmen sich Terrassenmöbel und die Überreste eines Gartenpavillons. Zumindest nimmt Pressia an, dass das schiefe, zersplitterte, aschgraue Etwas, das sich zur Seite neigt wie ein eigenwilliger Reifrock, mal ein Pavillon war. Wilda hockt sich an den Rand des flachen Endes, stößt sich ab und landet auf dem Grund. »Warte«, sagt Pressia und klettert hinterher, während Wilda schon weiterläuft und sich im Pavillon im Schneidersitz auf den Boden hockt. Pressia setzt sich zu ihr. »Das ist ja wie Vater-Mutter-Kind spielen. Spielst du das gerne?«
Das Mädchen nickt.
Pressia nimmt Freedle aus der Tasche und lässt ihn herumflattern. »Ich frage mich, ob die Kinder im Kapitol auch Vater-Mutter-Kind spielen.« Wenn man sowieso einen Vater und eine Mutter und ein glückliches, sicheres Zuhause hat, wenn einem das alles gar nicht fehlt, muss man es dann noch spielen? Für einen kurzen
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