Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
den anderen nur zu unterbrechen, wenn es gar nicht anders geht.
Trotzdem ist Pressia sich jeder seiner Bewegungen bewusst. Manchmal atmet Bradwell ein, als wollte er etwas sagen. Pressia hält jedes Mal inne und sieht ihn an. »Was ist?« Er schaut auf, ihre Blicke treffen sich. Sie fragt sich, ob er den Faden verloren hat. Bis er nach ein paar Sekunden wieder auf seine Zettel starrt und murmelt: »Nichts. Ich hab nur versucht, die Puzzleteile zusammenzusetzen.«
Jetzt dämmert der Abend, und Bradwell hustet, als wäre sein Kehlkopf entzündet – ein raues Seehundbellen, gefolgt von einem Keuchen. Er hockt vornübergebeugt auf dem Bett und wird von quälenden Hustenanfällen geschüttelt.
»Wir müssen mal an die frische Luft«, bemerkt Pressia.
Fignan piept.
»Du kannst mitkommen«, sagt sie.
Schnell ziehen sie die Mäntel über. Die Vögel in Bradwells Rücken legen die Flügel an. Beim Rausgehen deutet Pressia auf ein gemaltes Gesicht an der Wand – auf das Gesicht, das sie an Fandra erinnert. »Eine Freundin von mir sah ganz ähnlich aus. Fandra.«
Bradwell beugt sich vor. »Die Schwester von Gorse? Sie war bei den letzten dabei, die …« Wieder hustet er, bis es ihm gelingt, langsam und tief einzuatmen. »… die das Untergrund-Netzwerk benutzt haben, bevor wir es dichtgemacht haben.«
»Wir waren wie Schwestern, und dann war sie plötzlich weg.«
Sie treten ins Freie. Fignan hält sich dicht bei ihren Füßen, während Pressia die Tür verriegelt und fragt, wohin man durch den Untergrund gelangen konnte.
»Wir dachten, wir könnten die Leute hier wegbringen, aber das ganze Umland ist tödlich. Wir haben uns eingeredet, dass es auf der anderen Seite einen Ort geben könnte, wo Menschen überlebt haben – und in Frieden leben, vielleicht mit ein bisschen Luxus. Fandra und Gorse haben es versucht. Er ist allein zurückgekommen und hat gesagt, dass er sie verloren hat.«
»Und warum habt ihr den Untergrund dichtgemacht?« Sie spazieren in den Obstgarten, wo sie über knollige Wurzeln steigen und unter Ästen hindurchtauchen müssen, deren Enden sich in die Erde graben.
»Wir haben einige Leute losgeschickt. Nur sehr wenige sind zurückgekommen, und die paar haben grausame Geschichten erzählt. Viele sind einfach verschwunden, andere sind umgekommen. Wir haben die Hoffnung aufgegeben. Oder die Nerven verloren. Oder beides.« Bradwell verstummt und lehnt sich an einen Baum, vielleicht um durchzuatmen. »Ich hoffe immer noch, dass ein paar überlebt haben. Aber was, wenn sie alle da draußen gestorben sind? Der Gedanke lässt mich nicht los.«
»Hätten sie es nicht versucht, wären sie von der OSR aufgegriffen worden, und das hätte damals bedeutet, beim Kesseltreiben wahllos Leute zu töten – oder selbst als lebendes Ziel missbraucht zu werden. Keine schönen Alternativen. Du hast dein Bestes gegeben.«
»Es tut mir trotzdem leid«, sagt Bradwell. »Das mit Fandra.«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Ich muss einfach hoffen.«
Sie gehen weiter, vorbei an einem verfallenen Stall, einem zerschlagenen Gewächshaus. Fignan surrt nebenher und hievt sich mit seinen Armen über Wurzeln, Steine und Scherben. Bradwell saugt die kalte Luft tief in die Lunge.
Pressia blickt auf das Wohnheim, wo Wilda sich wahrscheinlich gerade bettfertig macht. Ihre Augen bleiben an einem erleuchteten Fenster hängen. Wilda. Sie würde ihr so gern sagen, dass sie sich alle Mühe geben.
Bradwell bleibt vor einem Stück Betonmauer stehen, das im Schutz eines zertrümmerten Schulgebäudes lag und deshalb unbeschädigt ist. Als Pressia näherkommt, sieht sie, was seine Aufmerksamkeit erregt hat – ein schattenhafter Fleck an der Wand, das Überbleibsel eines Menschen, der etwas vom Boden aufheben wollte und dabei hinterrücks vernichtet wurde.
»Früher hat man überall in der Stadt solche Abdrücke gesehen«, erzählt Bradwell. »Manche sind zu kleinen Schreinen geworden.«
»Ja, Großvater hat sie mir immer gezeigt. Aber als kleines Mädchen hab ich mich davor gefürchtet. Ich dachte, es wären dunkle Geister.«
»Dabei sind sie so schön.«
»Stimmt.« Pressia erinnert sich an Bradwells Worte – dass sie überall Schönheit sieht, aber nie in sich selbst. Sie betrachtet ihre hässliche, verbeulte, aschgraue Puppenkopffaust. Vielleicht hat er recht.
Der Wind brandet auf und legt sich wieder. Fignan kriecht zwischen Bradwells Stiefel.
»Ich glaube, in einem hatte Partridge recht«,
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