Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
meisten ausgestorben. Nur Winzhunde dürfen sich fortpflanzen.
Ans Wohnzimmer schließt sich eine Küche an, und dort steht Mimi. Sie holt ein Muffinblech aus dem Ofen. »Bitte noch mal von vorne, Iralene«, sagt sie. »Du hast einen Fehler gemacht. Die Note gehört einen Halbton höher, nicht tiefer.«
Die Musik bricht ab. Als Partridge sich umdreht, entdeckt er Iralene, die am anderen Ende des Zimmers an einem dunklen Mahagoniklavier sitzt. Sie strafft die Schultern, die Musik beginnt von Neuem. Warum kann sie plötzlich doch Klavier spielen? Oder wollte sie bloß bescheiden sein?
»Guten Morgen«, begrüßt Partridge Mimi, die immer noch nicht bemerkt hat, dass er hinter ihr steht. Aber eigentlich müsste es noch mitten in der Nacht sein, oder?
Statt zu antworten, überzieht Mimi die Muffins mit Zuckerguss. Partridge ist sich ziemlich sicher, dass sie ihn nicht leiden kann.
Er geht zu Iralene – und tritt dabei zum ersten Mal auf den flauschigen Teppich. Unter den Füßen spürt er immer noch kalten Beton.
Das ist nicht real.
Er fasst nach dem Sofa. Seine Hand fährt durch leere Luft. In seinem Zimmer überlagern die Projektionen echte Möbel, aber hier ist nichts.
»Iralene«, sagt er und berührt sie an der Schulter. Doch da ist keine Schulter und keine Iralene. Sie wollte, dass er der Musik folgt. Sie wollte, dass er diesen Raum findet.
Als er versucht, eine Klaviertaste herunterzudrücken, spürt er einen leichten Widerstand; im nächsten Augenblick ertönt eine Note, die sich mit Iralenes Spiel vermischt. Das Klavier ist echt. Er hämmert die Faust auf die Tasten und schreit: »Ist da irgendwer?«
Mimi zieht das nächste Muffinblech aus dem Ofen und sagt: »Bitte noch mal von vorne, Iralene. Du hast einen Fehler gemacht. Die Note gehört einen Halbton höher, nicht tiefer.«
Nein, es ist kein anderes Muffinblech – es ist dasselbe. Mimi und Iralene hängen in einer kurzen Endlosschleife fest. Hat sein Vater diese vorgetäuschte Welt erschaffen – womöglich nur für Partridge? Denkt er wirklich, dass sein Sohn darauf hereinfällt, dass er sich davon trösten lässt? Oder war diese Welt seine eigene Zuflucht, als Partridge in der Akademie verwahrt wurde? Am meisten regt ihn auf, wie schlampig das Ganze gemacht ist. Aber vielleicht hat Willux den Raum nur entwickelt, damit er selbst ab und zu hindurchspazieren kann, um sich einzureden, dass er eine richtige Familie hat, und dann wieder zu gehen. Partridge hat ihm ja offensichtlich nicht gereicht.
»Was für ein gemütliches Zuhause.« Partridge spricht ins Leere. Er fährt die Wand mit der Hand ab und geht weiter, bis zum Rand der Projektion. Die Wände sind gelb wie Butter, hier und da hängen dekorative Gemälde und Leuchter, aber nichts davon existiert wirklich. Also was liegt dahinter? Vielleicht ein Ausgang? Nach einer Weile stößt er auf eine Ecke, die keine Ecke ist. Er tastet sich vor und steht plötzlich auf der anderen Seite der Projektion.
Partridge befindet sich in einem dämmrigen Flur. Zu beiden Seiten reihen sich Türen auf, dicht an dicht, und aus jeder Tür dringt ein eigenartiges tiefes Summen.
An den Türen hängen beschriftete Schildchen: VERSUCHSOBJEKT EINS UND ZWEI, VERSUCHSOBJEKT DREI UND VIER, und so weiter bis VERSUCHSOBJEKT NEUN UND ZEHN. Doch an den restlichen Türen entdeckt er kleine Silberplaketten mit gravierten Namen. Er geht von Namen zu Namen – soweit er es beurteilen kann, handelt es sich ausschließlich um Frauen.
IRALENE WILLUX. Die Plakette wirkt nagelneu, vielleicht weil der Nachname sich vor Kurzem geändert hat. Iralene ist jetzt seine Stiefschwester, eine weitere Willux. Aber was hat ihr Name hier zu suchen? Was hat sie mit irgendwelchen Versuchsobjekten gemeinsam?
Unter ihrem Namen befindet sich eine weitere Plakette: MIMI WILLUX. Auch diese Plakette ist neu. Sie glänzt wie frisch poliert, ohne Rostflecken oder Verfärbungen.
Iralene wollte, dass er diesen Flur entdeckt – das Geheimnis im Geheimnis im Geheimnis. In welcher Geheimnisschicht befindet er sich nun? Er will gar nicht wissen, was ihn in der Kammer erwartet.
Trotzdem klopft er vorsichtig an.
Keine Reaktion.
Er versucht es noch mal. »Iralene? Ich bin’s, Partridge.«
Immer noch keine Reaktion.
Er dreht den Türknauf herum und öffnet die Tür.
Kalte Luft schlägt ihm entgegen – kältere Luft, als er je im Kapitol gespürt hat. Er tastet mit der flachen Hand auf der Wand und stößt schließlich auf einen Schalter. Das
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