Memento - Die Überlebenden (German Edition)
Mädchen aus dem Märchen. Du bist das Baby des guten Königs.«
Pressia hebt den Kopf und starrt Partridge fragend an.
»Du und Partridge …«, flüstert Bradwell.
»Du bist mein Halbbruder?«, fragt Pressia. »Meine Mutter und deine Mutter …«
»… sind ein und dieselbe Person«, vollendet Partridge den Satz.
Pressia hört das Schlagen ihres eigenen Herzens. Das ist alles.
Pressias Mutter ist die Schwanenfrau. Sie ist vielleicht noch am Leben.
PRESSIA
Chip
Pressia denkt an all das, was mit einem Schlag vielleicht nicht mehr wahr ist. Ihre ganze Kindheit, von ihrem Großvater erfunden. Ist er überhaupt ihr Großvater? Die Riesen-Mickymaus mit weißen Handschuhen in Disneyworld, das Pony auf ihrer Geburtstagsparty, der Eiscremekuchen, das Teetassen-Fahrgeschäft und der Goldfisch auf dem italienischen Festival, die Kirchliche Hochzeit ihrer Eltern, der Empfang in einem weißen Zelt. Ist irgendetwas davon wahr?
Doch sie erinnert sich an einen Fisch. Es ist nicht der in ihr Gedächtnis gepresste Fisch aus den Geschichten ihres Großvaters. Nicht der Fisch in der Plastiktüte, den sie auf dem Festival gewonnen hat. Nein. Es war ein Aquarium und ein Lesezeichen und ein Heizer unter einem Tisch, der leise summte. Sie war eingehüllt in den Mantel ihres Vaters. Sie saß auf seinen Schultern, tauchte mit ihm unter blühenden Bäumen hindurch. Sie weiß, dass er ihr Vater war. Doch die Frau, deren Haar sie gebürstet hat, die so süß roch – war das ihre Mutter? Oder war ihre Mutter die Frau aus dem tragbaren Recorder, die über das Mädchen auf der Veranda sang und den Jungen, der mit ihm durchbrennen wollte? War das ihre Mutter? Ist das der Grund, warum es eine Aufzeichnung war? Weil sie nicht da sein konnte? Weil sie zu ihrer eigentlichen Familie zurückkehren musste und ihren ehelichen Söhnen? Irgendjemand hat ihr dieses Lied pflichtergeben immer und immer wieder vorgespielt, selbst als Pressia es längst nicht mehr hören konnte. Eine unfruchtbare Frau, so hat Partridge es in der Geschichte von der Schwanenfrau genannt.
Das alles war nie im Leben ein Märchen. Diese Geschichte ist wahr. Das Lied ist in ihrem Kopf – ins gelobte Land und die sprechende Gitarre und wie er das Mädchen in seinem Wagen entführt.
Die Tür wird von außen aufgeschlossen und schwingt auf. Im Eingang steht die Frau mit dem Besenspeer. Sie hat eine große Flasche Alkohol bei sich und einen Stapel ordentlich gefalteter Lappen, Gaze, ein weiteres Lederband wie das, mit dem sie die Blutung an Partridges Fingerstummel gestoppt haben – und noch etwas. Wahrscheinlich ein Messer, eingewickelt in ein Tuch. Bradwell nimmt die Sachen entgegen, und die Frau zieht sich ohne ein weiteres Wort zurück. Die Tür wird wieder verschlossen. Pressia schließt für einen Moment die Augen und versucht sich zu stählen.
»Ist das okay für dich?«, fragt Bradwell sie.
»Ich wünschte, jemand anderes könnte es tun. Ich will nicht noch mehr Gefälligkeiten von dir.«
»Pressia«, sagt Bradwell. »Dein Großvater war nicht der Grund, warum ich nach dir gesucht habe. Das habe ich nur so gesagt. Ich weiß nicht warum. Aber es ist nicht die ganze Geschichte …«
Sie schneidet ihm das Wort ab. »Bringen wir es hinter uns.« Sie will keine weiteren Geschichten hören, insbesondere keine, in denen Bradwell sich reinzuwaschen versucht.
Sie legt sich auf den Boden, auf den Bauch, und schiebt sich die OSR-Jacke unter das Gesicht. Die Glocke, die sie aus dem Friseurladen mitgenommen hat, ist immer noch in einer Tasche – sie hatte sie völlig vergessen und ist froh, dass sie da ist. Eine Erinnerung, wie weit sie gekommen ist. Sie legt das Kinn auf den Puppenkopf und schließt die Augen. Sie riecht den Boden, Dreck, rauchige Asche, Spuren von Motorenöl. Bradwell schiebt ihre Haare zu einer Seite und legt ihren Nacken frei. Seine Berührung überrascht sie – sie ist so sanft, so behutsam, beinahe wie eine Feder.
»Keine Angst«, sagt er immer wieder. »Ich bin vorsichtig, okay?«
»Hör auf zu quatschen«, entgegnet sie. »Mach endlich.«
»Das willst du benutzen?«, fragt Partridge neben ihr. Sie stellt sich die Metzgermesser von Bradwell vor. »Puh! Hast du es schon mit Alkohol desinfiziert?« Partridge seufzt. »Du musst darauf achten, dass es steril ist.« Sind ältere Brüder so?, fragt sich Pressia. Immer in der Nähe, beschützerisch bis zum Gehtnichtmehr?
»Aus dem Licht«, sagt Bradwell.
»Ich will nicht zugucken«, sagt
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