Memento - Die Überlebenden (German Edition)
Partridge. »Glaub mir.«
Sie hört, wie er sich zurückzieht, doch es sind nur ein paar Schritte bis zur Wand in dem kleinen, beengten Raum. Er bleibt in der Nähe. Er muss das alles auch erst verarbeiten, nimmt sie an. Es ändert die Person, die seine Mutter war. Eine Heilige, die eine Affäre und ein Kind mit einem anderen Mann hat? Sie fragt sich, wie Partridge mit dieser neuen Version seiner Mutter zurechtkommt. Es fällt ihr gerade leichter über ihn nachzudenken als über sich selbst, doch diese Gedanken lauern ebenfalls im Hintergrund. Warum hat ihr Großvater nicht die Wahrheit gesagt? Warum hat er sie all die Jahre belogen? Eigentlich kennt sie die Antwort schon: Er hat sie wahrscheinlich als kleines Mädchen gefunden und sie bei sich aufgenommen.
Wenn Pressia und Partridge die gleiche Mutter haben und Partridge ein Weißer ist, dann muss ihre Mutter eine Weiße gewesen sein – die Mutter, die nach Japan ging, die zur Verräterin wurde, zur Spionin, die Geheimnisse verriet. Verkaufte? Ihre Mutter ist die Frau auf dem Foto am Strand und zugleich die Frau auf dem Bildschirm des Handheld-Computers beim Vorsingen eines Schlaflieds. Hat sie es aufgenommen, weil sie wusste, dass sie ihre Tochter verlassen würde? Das Foto – die im Wind flatternden Haare ihrer Mutter, die sonnenverbrannten Wangen, das Lächeln, das zugleich glücklich und traurig scheint. Wer ist diese Mutter, die sie sich immer vorgestellt hat, die junge und schöne japanische Frau, die auf dem Flughafen gestorben ist?
Ihr Vater muss japanisch gewesen sein – der gute König aus dem Märchen –, und wer ist der Mann, den sie sich als ihren Vater vorgestellt hat? Der Mann mit den hellen Haaren und den nach innen zeigenden Füßen, der in der Highschool auf den markierten Feldern Football gespielt hat? War er jemand, den ihr Großvater liebte? Sein eigener verlorener Sohn?
Das alles, denkt sie bei sich, das alles muss sie ihrer Mutter erzählen, wenn sie sie jemals sieht, wenn sie tatsächlich am Leben ist – ihr ganzes Leben bis hin zu dem Moment ihres Wiedersehens. Dieser Wunsch hat sich nicht geändert, nur, dass sie jetzt Hoffnung hat, echte Hoffnung, berechtigte Hoffnung, ihrer Mutter eines Tages zu begegnen.
Doch kann sie wirklich hoffen, dass ihre Mutter noch lebt? Ihr Großvater ist der einzige Mensch auf der Welt, dem sie jemals wirklich vertraut hat, und dennoch hat er sie all die Jahre belogen. Wenn sie ihm nicht vertrauen kann, wem dann?
Bradwell wischt ihren Nacken mit Alkohol ab. Medizinischer Alkohol oder Spiritus? Es ist kalt, und sie bekommt eine Gänsehaut.
»Die Chips waren eine schlechte Idee«, sagt Bradwell. »Meine Eltern kannten genügend Verschwörungstheorien, um zu verhindern, dass ich einen Chip bekam. Sie wollten nicht, dass irgendeine Megamacht wusste, wo jeder zu jedem beliebigen Zeitpunkt war. Zu viel Macht. Dieser Chip macht dich zu einem Ziel.«
»Warte«, flüstert Pressia. Sie ist noch nicht so weit.
Bradwell setzt sich zurück.
Sie erhebt sich auf die Knie.
»Was ist denn?«, fragt Bradwell.
»Partridge«, sagt sie leise.
»Ja?«
Sie ist nicht sicher, was sie ihn fragen will. Ihr Verstand ist voll mit Fragen.
»Was ist denn?«, fragt Partridge. »Ich beantworte jede Frage, die du hast. Alles, egal was.«
Seine Stimme scheint körperlos, als wäre er nur ein Traum, nicht real, eher eine Erinnerung. Partridge hat Erinnerungen an seine Mutter. War sie selbst zu jung, um Erinnerungen zu haben? Erinnerungen sind wie Wasser, erinnert sie sich an eines der geflügelten Worte ihres Großvaters. Es stimmt heute mehr denn je. Oder erinnert sie sich nicht, weil ihre Mutter nicht sehr viel in ihrem Leben war? War sie die Schwanenfrau, die ihre Tochter weggab an eine andere Frau, die keine Kinder haben konnte? »Erinnerst du dich an mich? Sind wir uns je begegnet, als kleine Kinder?«
Zuerst sagt Partridge gar nichts. Vielleicht hat er selbst mit seinen Erinnerungen zu tun, oder er fragt sich, ob er eine Geschichte für sie erfinden soll, wie ihr Großvater es getan hat. Will er ihr denn nicht helfen, ihre verlorene Kindheit zu verstehen? Sie würde es für ihn tun. »Nein«, sagt er schließlich. »Nein, ich erinnere mich nicht. Aber wir waren sehr klein«, fügt er hastig hinzu.
»Erinnerst du dich, dass deine Mutter schwanger war?«
Er schüttelt den Kopf und streicht sich mit der unverletzten Hand über die Haare. »Ich erinnere mich nicht, nein.«
Ihr Verstand läuft über vor lauter
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