Memento - Die Überlebenden (German Edition)
Fragen. Wie hat meine Mutter gerochen? Wie hat ihre Stimme geklungen? Bin ich wie sie? Bin ich anders? Würde sie mich lieben? Hat sie mich je geliebt? Oder hat sie mich einfach gehen lassen? »Wie heiße ich?«, fragt sie ganz leise. »Nicht Pressia, so viel ist mir klar. Ich war eine Waise. Mein Großvater kannte mich wahrscheinlich gar nicht, als er mich fand. Sein Nachname ist Belze. Es ist nicht meiner. Und Willux ist es auch nicht.«
»Ich kenne deinen Namen nicht«, gesteht Partridge.
»Ich habe keinen Namen.«
»Aber natürlich hast du einen Namen«, meldet sich Bradwell zu Wort. »Irgendjemand weiß ihn. Wir werden ihn herausfinden.«
»Sedge«, sagt Partridge, und seine Augen füllen sich mit Tränen. »Ich wünschte, du hättest ihn kennengelernt. Er hätte dich gemocht.«
Sedge ist Partridges toter Bruder – ihr toter Halbbruder. Die Welt ist wahnsinnig. Sie nimmt und gibt. »Es tut mir leid.«
Pressia kann Sedge nicht wirklich vermissen, und doch tut sie genau das. Sie hatte noch einen Bruder. Sie hatte noch eine Verbindung zur Welt. Und diese Verbindung existiert nicht mehr.
Pressia räuspert sich. Sie will nicht anfangen zu weinen. Sie muss jetzt hart sein. »Warum hast du keinen Chip, Partridge?«, fragt sie. »Warum haben sie dich aus den Augen verloren?«
»Bradwell hat recht, was das Ziel angeht. Mein Vater hat gesagt, dass jeder seiner Söhne zu jedem Zeitpunkt ein Ziel werden könnte.«
»Sie haben eine simple Wanze in die Geburtstagskarte gepackt«, sagt Bradwell. »Vielleicht gab es noch mehr. Wir haben seine Sachen verbrannt.«
»Und ihr habt die Wanze an eine der Ratten-Hybriden gebunden«, sagt Pressia.
»Woher weißt du das?«, fragt Bradwell überrascht.
»Ich bin dahintergekommen.« Pressia will die Sache jetzt hinter sich bringen. Sinnlos, sie noch weiter aufzuschieben. Sie legt sich erneut auf den Bauch. »Ich bin so weit.«
Bradwell beugt sich vor, tief über ihren Kopf – um ihr etwas zuzuflüstern? Pressia dreht sich um und stützt die Wange auf die Hand. Doch Bradwell sagt kein Wort. Er schiebt ihre Haare zur Seite. Es ist eine kleine Geste, ganz behutsam, erneut diese federleichte Berührung, von der sie dachte, er wäre mit seinen großen Händen nicht dazu imstande. Er ist schließlich immer noch ein Junge. Ein Heranwachsender, der sich selbst aufgezogen hat. Er ist hart und zäh und stark und wütend – doch er kann auch zärtlich sein. Und nervös, wie sie am Rascheln der Flügel auf seinem Rücken erkennt.
»Ich will das nicht tun, Pressia. Ich wünschte, ich müsste es nicht tun.«
»Es ist okay«, flüstert sie. »Nimm ihn raus.« Eine Träne rollt über ihre Nasenwurzel. »Nimm ihn raus, bitte.«
Bradwell wischt erneut ihren Nacken mit Alkohol ab, dann spürt sie seine Finger auf ihrer Haut. Seine Hände zittern. Er scheint sich selbst zu wappnen, denn er nimmt ihren Hals und zögert dann. »Partridge«, sagt er. »Ich brauche deine Hilfe.«
Partridge kommt zu ihnen.
»Gut festhalten«, sagt Bradwell. »Hier.«
Partridge zögert einen Moment, dann spürt sie seine Hände rechts und links an ihrem Kopf.
»Fester«, fordert Bradwell ihn auf. »Du musst ihn ganz ruhig halten.«
Partridges Hände ziehen sich zusammen wie die Backen eines Schraubstocks. Sie spürt, wie Bradwell ihr ein Knie in den Rücken drückt. Und dann spürt sie seine Hand erneut. Er drückt Daumen und Zeigefinger gegen ihren Hals, entschlossen diesmal, und dann zieht er im Raum dazwischen eine Linie mit einem Messer, das so scharf ist wie ein Skalpell.
Sie stößt einen schrillen Schrei aus, mit einer Stimme, von der sie nicht wusste, dass sie sie hat. Der Schmerz ist beinahe unerträglich. Das Skalpell frisst sich tiefer. Sie kann nicht mehr schreien, weil sie keine Luft mehr hat. Sie versucht sich aufzubäumen, Bradwell abzuwerfen, doch dann – obwohl der Schmerz so unerträglich durch ihren Körper rast und sie zu einem Tier werden lässt – weiß sie, dass ein entscheidender Moment gekommen ist und sie den Kopf nicht mehr bewegen darf.
»Stopp«, sagt Partridge.
Pressia ist nicht sicher, ob er mit ihr spricht oder mit Bradwell. Ist irgendetwas schiefgegangen? Sie könnte gelähmt sein. Sie alle wissen das. Sie spürt das Blut an beiden Seiten ihres Halses hinabrinnen. Sie hechelt. Ihr Blut bildet eine rasch größer werdende Lache auf dem Boden unter ihr. Sie wappnet sich innerlich gegen weiteren Schmerz. Ihr Körper erglüht tief im Innern. Sie erinnert sich an die
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