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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
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Hitze der Explosionen, die Hitzewellen, die über sie hinweggerollt sind. Sie erinnert sich, wie es war, für einen Moment den Halt verloren zu haben, ein Kind, ganz allein auf der Welt. Erinnert sie sich wirklich daran? Oder erinnert sie sich an den Versuch, sich zu erinnern? Sie kann die japanische Frau sehen, die wunderschöne, junge Frau – ihre Mutter, die starb und die jetzt noch einmal stirbt, weil sie nicht ihre Mutter war. Sie ist eine Fremde für Pressia, ein Gesicht, das sich in ein Nichts aufgelöst hat. Ihre Haut schmilzt. Sie liegt zwischen Leichen und Gepäck und umgekippten Koffern auf kleinen Rädern. Die Luft ist erfüllt von Staub, und dann kommt die Hitzewelle erneut zurück. Und plötzlich eine Hand, die sich um ihre Hand wickelt, ihre Ohren erfüllt von Herzschlag. Sie schließt die Augen, öffnet sie, schließt sie wieder. Einmal hatte sie ein Spielzeug, ein Fernglas mit einem Knopf, den man drücken konnte, um neue Szenerien erscheinen zu lassen. Jetzt öffnet sie die Augen und schließt sie wieder. Öffnet und schließt sie wieder in der Hoffnung auf ein neues Bild.
    Doch es ist immer noch der verdreckte Boden, immer noch der gleiche Schmerz.
    »Partridge«, fragt sie. »Hat unsere Mutter Gutenachtlieder gesungen?«
    »Ja«, sagt Partridge. »Ja, das hat sie.«
    Das ist doch etwas. Das ist etwas, womit sie anfangen kann.

PRESSIA
    Osten
    Pressias Nacken ist bandagiert mit blutdurchtränkter Gaze, gehalten von dem Lederband, das sie ihr um den Hals gebunden haben wie einen Kragen. Sie sitzt auf einer der Matratzen am Boden und lehnt mit dem Rücken gegen die Wand, um noch zusätzlichen Druck auf die Wunde in ihrem Nacken ausüben zu können.
    Der Chip, saubergewischt und von Blut befreit, ist weiß. Er liegt auf dem Boden wie ein verlorener Zahn – etwas, das zuvor tief in ihr verwurzelt war und nun nicht mehr. Aus irgendeinem Grund fühlt sie sich nicht befreit, sondern als hätte sie eine weitere Verbindung zu irgendjemandem in der Welt verloren – jemandem, der über sie gewacht hat –, und das fühlt sich an wie etwas, das sie betrauern sollte, selbst wenn sie weiß, dass dieses Überwachen nicht das Geringste mit elterlicher Liebe zu tun hatte.
    Bradwell wuselt hektisch um sie herum. Die Vogelschwingen auf seinem Rücken stehen nicht eine Sekunde still. Er zieht einen Rasenmäher aus dem Regal, dann stößt er ihn zurück. Er nimmt eine Pflanzschaufel, dann starrt er den Boden an.
    Partridge setzt sich neben Pressia auf die Matratze. »Was macht er da?«
    »Er ist in einem Rausch«, sagt sie. »Ich würde ihn in Ruhe lassen.«
    »Wie geht es dir? Alles okay?«, fragt er sie.
    Die Puppenkopffaust. Sie hebt die Puppenkopffaust. Die Augen öffnen sich klickend. Selbst die Lider sind bedeckt von Asche. Die Wimpern verklebt. Das kleine Loch im Puppenmund ist verstopft. Sie streicht mit der gesunden Hand über den Plastikkopf und spürt ihre verlorene Hand darunter. So kommt ihr jetzt ihre Mutter vor – irgendwie da, dumpf, unter der Oberfläche lauernd. »Solange ich mich nicht bewege …« Sie beendet den Satz nicht. Sie ist wütend auf Partridge. Warum? Ist sie eifersüchtig? Er hat Erinnerungen an ihre gemeinsame Mutter und sie nicht. Er war im Kapitol. Sie nicht.
    »Das war also alles«, sagt Partridge mit einem Nicken in Richtung des kleinen weißen Chips auf dem Boden. »So viel Aufwand für etwas so Kleines.« Er stockt. »Ich wusste es nicht«, sagt er dann. »So etwas hätte ich nie verheimlicht. Nicht vor dir, meine ich.«
    Sie kann ihm nicht in die Augen sehen.
    »Ich wollte nur, dass du das weißt.«
    Sie nickt. Die Bewegung erzeugt einen stechenden Schmerz in ihrem Nacken, der sich nach oben bis in ihren Kopf fortpflanzt. »Was denkst du jetzt über sie?«, fragt sie ihn.
    »Ich weiß es nicht.«
    »Ist sie immer noch eine Heilige? Sie hat deinen Vater betrogen«, sagt Pressia. »Sie hat ein außereheliches Kind geboren, einen Bastard.« Sie hat noch nie von sich als Bastard gedacht, doch aus irgendeinem Grund gefällt ihr die Vorstellung. Bastard. Es vermittelt eine gewisse Härte.
    »Ich bin nicht hergekommen, weil ich einfache Antworten erwarte«, sagt Partridge. »Ich bin froh, dass es dich gibt.«
    »Danke«, sagt sie und lächelt.
    »Merkwürdig finde ich allerdings, dass mein Vater von dir gewusst haben muss. Er hat dich all die Jahre beobachtet, als hätte er es gewusst. Ich frage mich, wie er die Nachricht aufgenommen hat.«
    »Nicht besonders gut, könnte ich

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