Memento - Die Überlebenden (German Edition)
Nichts, weswegen du dir Sorgen machen müsstest. Wir können so gut wie alles korrigieren, wenn er wieder hier ist.«
»Warum haben Sie mir diesen Ausschnitt gezeigt?«
»Damit du sehen kannst, dass er lebt und wohlauf ist, was denn sonst?«, entgegnet Willux.
Sie traut ihm nicht. Er hat ihr den kurzen Film gezeigt, um sie eifersüchtig zu machen. Tatsache ist, sie hat nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst belogen. Sie hat Partridge geküsst, nicht umgekehrt. Er hat ihr nie gesagt, dass er sie liebt. Es ist alles eine einzige Lüge. Er kann versuchen, sie eifersüchtig zu machen, wenn er will – es ist ihr egal. Sie war nie wirklich mit Partridge zusammen, deswegen kann sie ihn auch nicht verlieren.
Doch da ist noch etwas anderes. Partridge hat ihren Kuss erwidert, und als sie sich von ihm gelöst hat, war auf seinem Gesicht ein Ausdruck … er war unerklärlich. Erstaunt und glücklich. Sie denkt an sein Gesicht und lächelt. Soll Willux doch machen, was er will mit all seinen Informationen. Sie erinnert sich wieder an Partridges Worte: Machen wir das, was normale Leute machen. Damit niemand Verdacht schöpft. Er war derjenige, der es gesagt hat. Sie haben nur so getan, als wären sie normal. In Wirklichkeit waren sie anders als die anderen. Es war eine Art Geständnis, ein geteiltes Geheimnis.
»Warum lächelst du?«, reißt Willux sie aus ihren Erinnerungen.
»Es ist eine gute Nachricht«, antwortet Lyda. »Ihr Sohn ist am Leben.«
Willux mustert sie abschätzig, dann nimmt er die hellblaue Schachtel und schiebt sie ihr hin. »Du wirst diese Schachtel einer Soldatin übergeben«, sagt er. Wieder zittert seine Hand. »Wir hatten gehofft, sie würde mit uns zusammenarbeiten, doch sie hat sich bereits an der Ermordung eines unserer Agenten beteiligt.« Er atmet tief ein und seufzt. »Ich habe sie seit vielen Jahren beobachtet. Ein strahlender Lockvogel für jemanden, von dem ich hoffte, er würde sie eines Tages holen. Leider hat sie sich als ziemlich wertlos erwiesen.«
Ein strahlender Lockvogel, mit dem er jemandem in der Welt draußen eine Falle stellen wollte? Wem? »Darf ich fragen, was in der Schachtel ist?«, fragt Lyda schließlich zurückhaltend.
»Aber natürlich«, sagt er, und jetzt bemerkt sie auch ein Zittern in seiner Stimme, wenngleich kaum merklich, ein Tremor seines Kopfes. »Wirf einen Blick hinein. Ich denke nicht, dass du viel damit anfangen kannst, aber die Soldatin, Pressia Belze, wird die Botschaft verstehen, die wir ihr senden. Es könnte hilfreich sein, wenn es sie überzeugt, ihre Loyalitäten neu zu überdenken. Du kannst ihr sagen, dass das alles ist, was wir noch haben.«
Wovon noch haben?, fragt sie sich, doch sie sagt nichts. Sie will die Schachtel nicht öffnen, doch die Neugier lässt ihr keine Ruhe. Sie legt die Hand auf den Deckel und hebt ihn, und im Innern raschelt blaues Papier. Sie zieht es beiseite, und dort, eingebettet in ein Tuch, liegt ein kleiner schwarzer Ventilator mit durchgebranntem Motor.
PARTRIDGE
Fäden
Sie sind vor Einbruch der Morgendämmerung aufgebrochen. Es ist immer noch früh am Morgen, und sie sind ein gutes Stück vorangekommen. Zu jeder Seite werden sie von sechs großen Frauen flankiert. Viele der Kinder schlafen und sind deshalb schwerer als sonst, vermutet Partridge. Eine Frau, deren Kind mit ihrer Hüfte verschmolzen ist, stützt den Kopf des Kleinen, indem sie ihn mit einer Hand an ihre Brust presst. In der anderen Hand hält sie ein Schlachtermesser.
Sie marschieren schweigend zwischen zerstörten Häusern hindurch. Ganze Reihen sind dem Erdboden gleich, nur noch die Fundamente sind übrig. Bei einigen stehen noch verkohlte Gerippe, und gelegentlich hat sogar die eine oder andere Ziegelmauer überlebt. Manchmal ist das Haus verschwunden, aber ein Wohnzimmer aus verkohlten schwarzen Möbeln steht noch da oder die Beine eines Sessels oder das Skelett einer Spüle – alles viel zu sehr verrottet, um noch von irgendeinem Wert zu sein. Partridge kann sich nicht konzentrieren. Er sucht in seiner Erinnerung nach einem Streit zwischen seinen Eltern, einem Moment hochschäumender Temperamente, schwelender Wut, Feindseligkeit. Sie waren nicht glücklich miteinander, und sein Vater wusste, dass seine Mutter noch ein weiteres Kind hatte, nicht von ihm. Er muss es gewusst haben. Er kannte Pressias Versteck. Er wollte, dass sie Partridge findet. Warum? Ist es ein Hang zur Ironie? Will er die Mutter mit beiden überlebenden Kindern
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