Memento - Die Überlebenden (German Edition)
Sie ziehen die Fessel so fest, dass Lyda ihren Puls spürt.
Dann begegnen sie zwei Ärztinnen draußen auf dem Gang. »Ist das wirklich nötig?«, flüstert die eine der anderen zu. »Denk doch an Jillyce.« Jillyce ist Lydas Mutter. Es kommt ihr unwirklich vor, andere mit solcher Intimität über ihre Mutter reden zu hören. Sie wollen nicht, dass ihre Mutter Lyda gefesselt sieht. Die Schande, die Peinlichkeit. Bedeutet das, dass sie ihre Mutter noch einmal sieht, bevor sie weggebracht wird?
Aus Barmherzigkeit befehlen sie den Wachen, die Handschellen abzunehmen. Die Wache ist nur ein paar Jahre älter als Lyda. Für einen Moment fragt sich Lyda, ob sie früher auch die Akademie besucht hat und ob sie sich vielleicht schon einmal in den Gängen begegnet sind. Die Wache zieht ein großes Messer mit roten Griffen hervor und schiebt es zwischen Lydas Handgelenken unter die Fessel. Für einen Moment stellt sich Lyda vor, wie es sich anfühlen würde, wenn sie ihr die Handgelenke aufschlitzt. Sie trägt immer noch den weißen Overall und das Kopftuch. Das Blut würde hellrot leuchten auf dem Gewebe. Sie wird angewiesen, die Hände vor dem Körper zu verschränken, und Lyda gehorcht. So geht es weiter.
Sie hält nach ihrer Mutter Ausschau, als sie das Therapiezentrum verlassen, doch die ist nirgendwo zu sehen.
Die Wachen begleiten sie in einem einzelnen Waggon zum Medizinischen Zentrum, wo sie aussteigen und Lyda durch weitere Gänge führen. Sie war noch nie im Medizinischen Zentrum, außer als ihr die Mandeln rausgenommen wurden und einmal wegen einer leichten Grippe. Die Akademie-Mädchen bekommen keine Codierung. Die Gefahr ist zu groß, dass ihre Fortpflanzungsorgane Schaden nehmen könnten, und die sind wichtiger als ein schärferer Verstand oder ein stärkerer Körper. Ihre Chancen auf eine Zulassung zur Fortpflanzung gehen allerdings inzwischen gegen null. Die etwas Älteren, die sich nicht fortpflanzen dürfen, können für eine Hirncodierung herangezogen werden. Doch auch dafür ist sie wohl keine geeignete Kandidatin. Warum ein Gehirn verbessern, das psychisch beeinträchtigt ist? Sie weiß allerdings auch, dass es eine Chance gibt, dass das Neue Eden noch zu ihren Lebzeiten Wirklichkeit wird. Wird an diesem Punkt nicht jeder, der sich noch fortpflanzen kann, für die Neubesiedlung gebraucht? Selbst diejenigen, die eine Zeit lang im Therapiezentrum gesessen haben, wie sie? Sie hat noch Hoffnung.
Die Tapete hat ein Blumenmuster wie in der Eingangshalle eines Privathauses im Davor. Es gibt sogar zwei Schaukelstühle, wie eine Einladung, sich hinzusetzen und eine Weile zu plaudern. Vermutlich soll es die Leute beruhigen, denkt Lyda. Im Gegensatz zu den anderen Mädchen, die im Small-Talk-Unterricht gut waren, musste Lyda die Liste mit den angemessenen Fragen auswendig lernen, um ein Gespräch in Gang halten zu können. Unterhaltungen sind für sie eine Qual, und sie fürchtet das Ende, als ginge etwas Bedeutsameres, Wichtigeres zu Ende. Sie muss daran denken, was Partridge zu ihr gesagt hat, als er vorgeschlagen hat zu tanzen. Machen wir das, was normale Leute machen. Damit niemand Verdacht schöpft. Sie ist nicht normal. Genauso wenig wie er.
Aber dieser kurze Eindruck von gemütlichem, häuslichem Leben täuscht niemanden. Nicht angesichts der summenden, flackernden Leuchtstoffröhren an der Decke. Nicht mit den fahlen Zimmern, in die man manchmal hineinspähen kann, wenn eine Tür aufgeht, in denen eine Mumienform auf einer flachen Pritsche liegt, mit Gittern zu beiden Seiten. Ist jemand in der Form? Sie kann es nicht sagen, nicht mit dem Krankenhauspersonal mit seinen Masken und Handschuhen und Kitteln, das unablässig hin und her rennt.
Ein Stück voraus steht eine lange Schlange von Akademie-Jungen. Ihre Augen huschen die Reihe entlang. Einige erkennen sie – ihre Augen weiten sich, als sie sie erkennen. Einer grinst sie an. Sie weigert sich, den Blick abzuwenden. Sie hat nichts Falsches getan. Sie hebt den Kopf und sieht starr geradeaus, richtet den Blick auf eine Telefonzelle, die am Ende des Ganges an die Wand montiert ist.
Sie hört jemanden ihren Namen flüstern. Sie hört Partridges Namen. Sie will die Jungen fragen, was man ihnen erzählt hat, welche Geschichte, irgendetwas, selbst die Lüge, die gestreut wurde, ist besser als nichts.
Am Ende des Korridors bleiben sie vor einer Tür stehen. Neben der Tür hängt ein Namensschild: ELLERY WILLUX. Ihr stockt der Atem. »Warten Sie«, sagt sie
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