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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
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mit kurz geschorenen Haaren.«
    »Unmöglich«, sagt Pressias Großvater. Pressia denkt das Gleiche. Die Leute lassen sich immer wieder was Neues über die Reinen einfallen. Es ist nicht das erste Mal, dass sie ein Gerücht wie dieses gehört hat. Und nicht eines davon hat sich als wahr herausgestellt.
    »Er wurde in den Drylands gesehen«, sagt die Frau. »Und dann war er wieder verschwunden.«
    Pressias Großvater lacht, und das Lachen verwandelt sich in ein Husten. Er dreht den Kopf zur Seite und hustet, bis er keine Luft mehr bekommt.
    »Kannst du das überhaupt noch?«, fragt die Frau. »Hast du nässende Lungen, oder was?«
    »Mir geht’s gut. Es ist der Ventilator in meinem Hals, weißt du? Ich atme zu viel Staub ein und muss ihn irgendwie nach draußen schaffen.«
    »Ist außerdem nicht höflich zu lachen«, sagt die Frau.
    Pressias Großvater beginnt mit dem Nähen der Wunde. Die Frau verzieht das Gesicht.
    »Wie oft haben wir so was schon gehört?«, fragt er.
    »Diesmal ist es anders«, beharrt die Frau. »Diesmal sind es keine betrunkenen Mehrlinge. Diesmal waren es drei verschiedene Leute, die ihn gesehen haben. Jeder hat ihn gesehen und es berichtet. Sie sagen alle, er hätte sie nicht bemerkt, und sie haben ihn nicht angesprochen, sich nicht genähert, weil sie gespürt haben, dass er heilig ist.«
    »Gerüchte. Nichts als Gerüchte.«
    Sie verstummen vorübergehend, während Pressias Großvater die Wunde der Frau näht. Das Gesicht der Frau ist starr geworden, die Zahnräder ineinander verschränkt. Pressias Großvater tupft das Blut weg. Er arbeitet schnell und zielstrebig, betupft die Wunde mit Alkohol, verbindet sie.
    »Fertig«, sagt er schließlich, und die Frau krempelt ihren Ärmel runter, über die Bandage. Sie gibt ihm eine kleine Dose Fleisch, dann nimmt sie ein Stück Obst aus ihrem Sack. Es ist hellrot mit einer dicken Haut, ähnlich einer Orange. »Eine Schönheit, nicht wahr?« Sie reicht ihm das Obst als Bezahlung.
    »War nett, Geschäfte mit dir zu machen«, entgegnet ihr Großvater und nimmt die Frucht.
    Die Frau zögert. »Glaub mir, was ich dir erzählt habe, oder lass es sein. Aber wenn es einen Reinen gibt, der aus dem Kapitol gekommen ist, dann weißt du, was das bedeutet.«
    »Nein«, sagt Pressias Großvater. »Was bedeutet es? Sag du es mir!«
    »Wenn es einen Weg nach draußen gibt, dann gibt es auch einen Weg nach drinnen.« Pressia fröstelt plötzlich. Dann hebt die Frau den Finger ans Ohr. »Hörst du das?«, fragt sie.
    Und jetzt hört Pressia in der Tat etwas – den weit entfernten Singsang eines Kesseltreibens. Was, wenn die Frau am Ende doch nicht verrückt ist? Pressia wünscht sich, dass die Gerüchte über den Reinen wahr sind. Sie weiß, dass Gerüchte nützlich sein können. Manchmal enthalten sie echte Informationen. Meistens sind es jedoch Lügen oder Märchen. Dieses ist die schlimmste Sorte – die Sorte von Gerücht, die einen in Bann schlägt, einem Hoffnung macht.
    »Wenn es einen Weg nach draußen gibt«, sagt die Frau erneut, sehr langsam und gelassen diesmal, »dann heißt das, es gibt auch einen Weg hinein.«
    »Wir kommen niemals da rein«, sagt Pressias Großvater ungeduldig.
    »Ein Reiner!«, sagt die Frau. »Ein Reiner, hier, mitten unter uns!«
    In diesem Moment hören alle das Rumpeln eines Trucks in der Gasse. Sie verstummen erschrocken.
    Ein Hund bellt wütend, ein Schuss fällt, und das Bellen ist verstummt. Pressia weiß, welcher Hund es war – sie hat ihn an seinem Bellen erkannt. Ein Hund, der zu oft geschlagen wurde, der nur Angriff oder Ducken kennt. Er hat ihr immer leidgetan, und manchmal hat sie ihm kleine Happen zu fressen gegeben – nicht von der Hand, sie war nicht so dumm, dem Tier völlig zu vertrauen.
    Sie hält die Luft an. Alles verstummt, mit Ausnahme des leisen Leerlaufrumpelns draußen in der Gasse. Morgen früh wird jemand verschwunden sein.
    Ihr Großvater klopft mit dem Stock auf den Boden, Rasieren und Haareschneiden, bitte, doch Pressia ist noch nicht bereit zu gehen. Sie will ihren Großvater nicht verlassen. Er geht rasch zu seinem Sessel. Nimmt den Ziegelstein und wiegt ihn in einer Hand.
    Die Frau hält ihre Wunde und späht vorsichtig aus dem Fenster. »OSR!«, flüstert sie verängstigt.
    Pressias Großvater starrt zu Pressia, und ihre Blicke begegnen sich in dem kleinen offenen Spalt der Schranktür. Sein Atem geht schnell, und seine Augen sind geweitet. Verloren. Er sieht verloren aus.
    Gelähmt vor

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