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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
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rutscht über den Boden, wirft sich zwischen Ventilatorblättern hindurch. Noch ein Schnitt in der Wange. Er hört ein fernes Ticken. Der Motor. Er springt durch den vorletzten Ventilator und sprintet los. Am Ende des Tunnels sieht er schon den letzten Satz rosafarbener Filter. Er will hier raus. Er will alles wieder spüren, Wind und Sonne. Er will seine alte Straße wiederfinden, sein altes Haus – weg, alles weg, das weiß er. Trotzdem. In seinem Verhaltenscode findet sich ein Widerstand. Warum? Was hat das alles mit seiner Mutter zu tun? Er hat ihre Sachen in der Metallkiste gefunden, und von dem Moment an war alles anders. Er hat den Beutel mit den Andenken, Mementos  – den kleinen Schwan an der goldenen Halskette, die Geburtstagskarte, die Spieluhr, das Foto in der Plastikhülle. Er kann alles spüren, im Rucksack auf seinem Rücken.
    Der letzte Ventilator klickt rückwärts, zwei Zentimeter, mehr nicht, und Partridge wirft sich im letzten Moment durch die Lücke zwischen zwei Blättern, gerade als die Ventilatoren in seinem Rücken bereits zu fauchen anfangen und die Luft wie in einem gewaltigen, tiefen, nicht enden wollenden Atemzug von der anderen Seite der Filter ansaugen. Die Luftströmung beginnt an ihm zu zerren. So ist es auch mit seiner Erinnerung – ein langes Einatmen, das ihn zurückzuziehen versucht. Er fällt, stemmt sich gegen den rauschenden Wind, zieht sich Hand über Hand von den Ventilatorblättern weg. Seine Stärkecodierung kommt ihm zu Hilfe. Er spürt eine unbändige Kraft. Als er nah genug ist, streckt er die Hand aus und hackt mit seinem Küchenmesser auf den Filter ein, bis das Loch groß genug ist. Er schiebt sich hindurch, während sich ringsum rosa Fasern lösen und an ihm vorbei in den Ventilator fliegen und ihm das Wort Konfetti einfällt.

PRESSIA
    Klopf, klopf
    Pressia arbeitet bis spät in die Nacht an ihren kleinen Tieren. Ihr Großvater schläft neben der Hintertür, aufrecht in seinem Sessel, den Ziegelstein auf dem Oberschenkel. Er hat die Tauschgeschäfte übernommen, und seitdem das so ist, brauchen sie mehr und mehr der gebastelten Tierchen für weniger und weniger Gegenleistung. Manchmal ist er zu krank, um es überhaupt bis zum Markt zu schaffen, und dann fühlen sich beide nutzlos, was beide hassen. Sie merkt inzwischen am Hunger, wie die Zeit vergeht. Während der letzten Nächte ist ihr allmählich klar geworden, dass sie hier langsam sterben könnte, vor sich hin dämmern in einem dreckigen Schrank in einem beengten Raum. Sie betrachtet ihren Großvater, den Stumpf mit den Drähten, die geschlossenen Augen, das Leuchten seiner Verbrennungen, das mühsame Heben und Senken seiner Brust, das leise Schnaufen von der Asche in seinen Lungen, den surrenden kleinen Ventilator in seiner Kehle. Sein Gesicht ist verkniffen, sogar im Traum.
    Bradwells Geschenk verwahrt sie auf dem Tisch, das Bild aus der Zeitschrift. Manchmal hasst sie die Menschen mit ihren 3-D-Brillen – eine gemeine Erinnerung an etwas, das sie niemals haben wird –, doch sie schafft es irgendwie trotzdem nicht, das Bild wegzutun.
    Seit sie das Geschenk aufgemacht hat, sind mehr Erinnerungen in ihr aufgestiegen, kurze Blitze: ein kleines Aquarium mit hin und her schwimmenden Fischen, wie sich die wollene Quaste an der Handtasche ihrer Mutter anfühlte, das weiche Garn in ihrer Hand, ein Heizapparat unter einem Tisch, der leise surrte. Sie auf den Schultern ihres Vaters, während er unter blühenden Bäumen hindurchwandert. Sie eingewickelt in seinen Mantel, während sie schlafend aus dem Wagen ins Bett getragen wird. Sie erinnert sich, wie sie die Haare ihrer Mutter gebürstet hat. Aus einem kleinen Computer ein Kinderlied, gesungen von einer Frau – das Bild von einem Mädchen auf der Veranda, und jemand bittet sie, ihre Hand zu nehmen und mit ihm ins Gelobte Land zu reiten. Nur die Stimme, keine Instrumente. Es muss das Lieblingslied ihrer Mutter gewesen sein. Sie hat es jeden Abend für Pressia zum Einschlafen angemacht. Damals war Pressia das Lied bald leid, doch jetzt würde sie nahezu alles opfern, um es noch einmal zu hören. Ihre Mutter … sie roch wie Seife und Gras. Sauber. Süß. Ihr Vater roch stärker, mehr wie Kaffee. Das Bild der Leute im Kino befeuert ihre Erinnerung irgendwie, und sie vermisst ihre Eltern so sehr, dass sie manchmal nicht mehr atmen kann. Es sind nur bruchstückhafte Erinnerungen, aber sie fühlt sich von ihrer Mutter umhüllt – der Weichheit ihres

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