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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
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Radio in der Nacht verklungen sind. Der andere Truck ist immer noch in der Gasse. Sie hört lautes Geschrei, doch es ist nicht die Stimme ihres Großvaters.
    Sie späht durch die großen Löcher, in denen früher einmal Fensterscheiben waren. Es ist dunkel und kalt. Niemand ist auf der Straße. Sie gleitet im Schatten der Wand zum geborstenen Rahmen der Vordertür. Dort gibt es ein eigenartiges verrostetes Rohr, bemalt mit schrägen roten und blauen Streifen. Es ist verbogen und geborsten. Ihr Großvater hat ihr erzählt, dass alle Friseurläden so ein Zeichen hatten, ein Symbol, das früher einmal etwas bedeutet hat. Sie tritt über die Schwelle nach draußen, hält sich dicht an der verwitterten Hauswand.
    Was war der Plan? Verstecken. Das riesige alte Bewässerungsrohr, das ihr Großvater ihr einmal gezeigt hat, ist drei Blocks entfernt. Er glaubt, dass sie dort sicher ist. Aber ist sie jetzt überhaupt noch irgendwo sicher?
    Bradwell, denkt sie. Der Untergrund. Sie hat immer noch die gefaltete Karte zu seinem Versteck, die er ihr in die Tasche geschoben hat. Vielleicht ist er zu Hause, bereitet sich auf seinen nächsten Vortrag in Schattengeschichte vor. Was, wenn sie zu ihm geht und sich für das Geschenk bedankt, so tut, als wäre es nicht fies, sondern nett gemeint gewesen? Würde er sie aufnehmen? Er schuldet ihrem Großvater noch einen Gefallen, weil der ihn genäht hat, aber sie würde niemals zu ihm gehen und diesen Gefallen einfordern. Niemals. Trotzdem beschließt sie, sich bis zu ihm durchzuschlagen. Fandra hat nicht überlebt, aber ihr Bruder.
    Auf dem Fußboden neben der Tür entdeckt sie eine kleine Metallglocke mit verkohltem Stiel. Sie hebt sie auf. Die Glocke macht kein Geräusch – der Klöppel ist verschwunden. Vielleicht kann sie irgendetwas daraus machen, eines Tages.
    Sie hält die Glocke so fest gepackt, dass der Rand in ihre Haut schneidet.

PARTRIDGE
    Huf
    Partridge hört die Schafe, bevor er sie sieht. Es raschelt im Unterholz der dunklen Wälder vor ihm, und hin und wieder ertönt ein Blöken. Ein Tier stottert auf eine Weise, die ihn an Vic Wellingslys abgehacktes Lachen in der Monorail erinnert. Doch das war in einer anderen Welt. Die Sonne ist inzwischen untergegangen, und jegliche Wärme hat sich verflüchtigt. Partridge ist jetzt am Stadtrand – beziehungsweise dessen verkohlten, gedrungenen Überresten. Er riecht Rauch von Feuern, hört entfernte Stimmen, gelegentlich ein Rufen. Über ihm rascheln Flügel.
    Er hat es durch den Abschnitt staubtrockener Felder geschafft, wo er all seine Wasservorräte verbraucht hat. Zweimal dachte er, er habe ein Auge im Boden gesehen, ein einzelnes blinzelndes Auge, das sich rasch wieder im Staub verlor. Einbildung? Er ist nicht sicher.
    Er hält sich vom Wald fern – wenn schon die Erde so lebendig ist, dann sind die Wälder entschieden zu gefährlich. Vermutlich leben die Unglückseligen dort. Er denkt an seine Mutter, die Heilige, wie sein Vater sie zu nennen pflegte, und die Unglückseligen, die sie angeblich gerettet hat. Wenn sie noch am Leben ist, sind sie es dann auch?
    Ein großer, ölig glänzender schwarzer Vogel segelt dicht über seinen Kopf hinweg. Partridge sieht den scharfen krummen Schnabel und die Klauen, die sich in der Luft öffnen und schließen. Er denkt an Lydas Drahtvogel, Schuldgefühle und Angst packen ihn. Wo ist Lyda jetzt? Er hat das Gefühl, dass sie in Gefahr schwebt, dass sich ihr Leben verändert hat. Wird man sie nur verhören und dann in ihr normales Leben zurückkehren lassen? Sie kann ihnen nichts erzählen, sie weiß nichts – nur, dass er das Messer genommen hat. Doch es wird aussehen, als hielte sie etwas zurück, als wüsste sie mehr, als sie zuzugeben bereit ist. Hat jemand gesehen, wie sie sich geküsst haben? Falls ja, wird sie das umso schuldiger aussehen lassen. Er erinnert sich an den Kuss – er kommt wieder und wieder zu ihm zurück – süß und weich und warm. Sie roch nach Blumen und Honig.
    Dann kommen die Schafe unter den Bäumen hervor, humpelnd auf zierlichen geschundenen Hufen. Er hockt sich ins Gestrüpp, um sie zu beobachten. Er nimmt an, dass sie verwildert sind. Sie wandern zu einem Einschnitt im Boden, in dem sich Regenwasser gesammelt hat. Ihre Zungen sind schnell und sehen scharf aus, manche glänzend wie Rasierklingen. Ihr Fell ist übersät von perlenden Wassertropfen, zu Platten verfilzt. Ihre Augen bewegen sich scheinbar unabhängig, und ihre Hörner – manchmal zu

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