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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
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Stimme, die langsam in dem dämmrigen Raum bis zwanzig zählt, während seine Finger über die Klinge gleiten. Er macht sich daran, die Filter zu zerschneiden. Die Fasern sind zäh und durchzogen von dicken Strängen. Wie Muskeln. Wie Fleisch. Die Fasern beginnen sich zu lösen. Die Partikel wirbeln auf und fliegen umher und erinnern ihn erneut an etwas aus seiner Kindheit, das er nicht genau in Worte fassen kann … etwas wie Schnee?
    Partridge hat gehört, dass die Fasern Widerhaken haben und sich in der Lunge festsetzen und zu Entzündungen führen können. Er weiß nicht, ob das wahr ist oder nicht. Inzwischen misstraut er allem, was ihm als Tatsache präsentiert wird. Andererseits will er keine überflüssigen Risiken eingehen. Also nimmt er seinen Schal und wickelt ihn um Mund und Nase.
    Schließlich hat er die Filter ausreichend zerschnitten, um sich mit der Schulter einen Weg hindurchzubahnen. Seine Kapuzenjacke ist staubig rosa, als er auf der anderen Seite ankommt. Vor sich sieht er die Reihe gigantischer Ventilatoren, die Flügel scharf und reglos.
    Er rennt zum ersten Ventilator, findet eine Lücke zwischen zwei Blättern und duckt sich hindurch. Er rutscht auf der glatten Oberfläche aus und fällt krachend auf die Hüfte – Unbeholfenheit wegen der Codierung. Der Schlag hallt durch den Tunnel. Hastig rappelt er sich auf, überwindet den nächsten Ventilator und den übernächsten, findet einen Rhythmus. Hat der Techniker schon gemerkt, dass seine Mumienform leer ist? Hat jemand lauten Alarm ausgelöst? Wurden die Spezialkräfte gerufen? Sobald sich herumspricht, dass Willux’ Sohn – sein einziger lebender Sohn – verschwunden ist, werden sie wie verrückt nach ihm suchen.
    Immer schneller bewegt er sich von einem Ventilator zum nächsten, überwindet die Flügel wie einen Hindernisparcours. Er erinnert sich an einen Garten, vielleicht den Garten seines eigenen Elternhauses oder auch von jemand anderem. Es gab einen grünen Rasen und richtiges Gras und Bäume mit einer Rinde, die nicht glatt und poliert war. Sogar einen Hund gab es. Partridges älterer Bruder und noch jemand, ein groß gewachsenes Mädchen, hatten einen Parcours mit Seilen gebaut, an denen sie sich entlangschwingen wollten, mit Ringen, durch die sie sich werfen mussten. Und es gab einen Ball, den sie am Ende in einen Eimer schießen mussten. Es gab Getränke in rechteckigen Verpackungen mit winzigen Strohhalmen. Die Strohhalme hatten Ziehharmonikahälse, damit man sie zum Mund biegen konnte.
    Plötzlich wird sein Kopf schwer und er gerät ins Rutschen. Er greift nach einem Flügel, um sich festzuhalten – die Kante ist so scharf, dass er sich schneidet. Blutstropfen sprenkeln den Boden. Er hat sein eigenes Blut erst ein paarmal gesehen, beim Zahnarzt beispielsweise, wenn die Geräte zu kräftig eingestellt waren und sein schaumiger Speichel plötzlich rosa wurde. Seine Sicht verengt sich zu einem Tunnel mit einem weißen Punkt am Ende, der sich rasch wieder ausdehnt.
    Er wirft einen schnellen Blick auf die Uhr. Noch zweiunddreißig Sekunden und elf Ventilatoren. Ihm dämmert, dass er es vielleicht nicht schaffen wird. Dass er hier sterben könnte, in Stücke gehackt, und weil er die Filter hinter sich gelassen hat, wird sein Körper nach draußen gezogen, während der starke Luftstrom sein Blut mit den kleinen Fasern der Filter herumwirbelt. Sie werden sich rot färben. Die Techniker müssen Maschinen abschalten, eine Reihe von Leuten muss vorübergehend in neue Unterkünfte ziehen, Gerüchte werden gestreut. Die wahre Geschichte wird begraben werden. Sie werden kein Wort über ein Problem mit der Luftreinigungsanlage verlieren, weil dann alle glauben würden, dass die Unglückseligen den Aufstand proben und biologische Waffen einsetzen. Sie könnten sogar denken, dass die OSR, dieses lächerliche militaristische Regime, einen Treffer gelandet hat. Eine Massenpanik wäre die Folge. Nein, sie lassen sich eine andere Geschichte einfallen, und was Partridge betrifft, erfinden sie irgendeine traurige Story, die ihn – vielleicht – in einem edlen Licht dastehen lässt. Der arme Willux wird Berge von Kondolenzkarten erhalten. Es wird keine richtige Beerdigung geben. Genau wie beim letzten Mal, als Sedge starb. Niemand will Tote sehen, hier gibt es keine großartige Barbarei . Der arme Willux, beide Söhne und die Frau – alle tot. Drei Boxen im Archiv für Persönliche Gegenstände Verstorbener.
    Partridge stolpert vorwärts,

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