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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
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Angst überlegt Pressia, was wohl aus ihm werden wird ohne sie. Vielleicht ist die OSR wegen jemand anderem gekommen, vielleicht wegen des Jungen namens Arturo oder wegen der beiden Zwillingsmädchen, die im Anbau wohnen. Nicht dass sie sich wünschte, es wären die Mädchen oder der Junge. Wie kann sie irgendjemandem die OSR an den Hals wünschen?
    Sie kann sich nicht rühren.
    Draußen in der Gasse hört sie einen gedämpften Schrei, Stiefel, die über das Pflaster scharren. Nicht hierher, flüstert sie zu sich selbst. Bitte, nicht hierher! Sie wartet auf das Hochdrehen des Motors, das Einrücken der Kupplung, doch der Truck rührt sich nicht, ein konstantes leises Rumpeln in der Gasse.
    Ihr Großvater tappt erneut mit dem Gehstock auf den Boden, fester diesmal – Rasieren und Haareschneiden, bitte!
    Sie muss los. Doch bevor sie geht, malt sie mit dem Finger einen Kreis mit zwei Augen und einem lächelnden Mund in die Asche auf der Schranktür. Ich komme zurück, soll das heißen. Wird er es sehen? Wird er es verstehen? Was, wenn sie nicht bald wieder nach Hause kommt? Was, wenn sie es nicht schafft und nie wieder zurückkehren wird?
    Pressia atmet tief durch, dann boxt sie mit der Puppenkopffaust gegen das rückwärtige Paneel. Es gibt ein wenig nach, dann fällt es heraus und landet klappernd auf dem staubigen Boden des Friseurladens. Licht strömt in den Schrank.
    Pressias Herz schlägt bis zum Hals. Sie blickt sich in der schattigen, leeren Hülle des Ladens um. Der größte Teil des Dachs wurde weggerissen und gibt den Blick auf den düsteren Nachthimmel frei. Sie fühlt sich schutzlos in dem freien Raum nach der Enge des Schranks.
    Es gibt nur noch einen einzigen Stuhl im Friseurladen, einen Drehstuhl mit Fußpumpe, die den Stuhl hebt oder senkt. Der Tresen vor dem Stuhl ist ebenfalls vollkommen intakt geblieben. Drei Kämme schweben in einem staubbedeckten Glasbehälter in einer trüben blauen Flüssigkeit, als wäre die Zeit stehen geblieben.
    Rasch schlüpft sie in den Schatten der Mauer und gleitet an der Wand entlang, vorbei an der Reihe zerschmetterter Spiegel. Sie hört das Rumpeln eines zweiten Trucks. Es ist seltsam, dass mehr als einer gekommen sind. Sie hockt sich hin und hält den Atem an. Rührt sich nicht. Sie hört ein Radio im Truck spielen, die blecherne Version eines alten Lieds mit einer kreischenden E-Gitarre und einem pumpenden Bass. Sie kennt das Lied nicht. Wenn die OSR Leute holt, hat sie gehört, dann werden ihnen die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden und der Mund zugeklebt. Aber drehen sie das Radio laut, wenn sie durch die Gegend fahren? Irgendwie macht das alles noch schlimmer.
    Sie duckt sich, so tief sie kann. Sie versucht nicht zu atmen. Sind sie nur wegen ihr gekommen? Ein Truck blockiert die Gasse, ein anderer die Hauptstraße, die parallel dazu verläuft. Alle Spiegel sind zerbrochen, bis auf einen Handspiegel, der auf der Theke liegt. Sie hat ihren Großvater mal gefragt, wozu diese Handspiegel gut waren. Er hat ihr erklärt, dass sie benutzt wurden, um den Kunden ihren Kopf von hinten zu zeigen. Sie versteht nicht, warum jemand seinen Kopf von hinten sehen will – wozu wäre das gut?
    Von ihrem Platz aus kann sie das Kapitol sehen, genau im Norden, hoch oben auf dem Berg. Es sieht fast aus wie eine Kugel, hell und leuchtend, starrend vor dunklen, bedrohlichen Waffen, eine glitzernde Festung, gekrönt von einem mächtigen Kreuz, das sogar durch die aschegesättigte Luft hindurchstrahlt. Sie denkt an den Reinen, der angeblich in den Drylands gesehen wurde, groß und schlank mit kurzen Haaren. Es ist ein Gerücht, muss ein Gerücht sein, weiter nichts – es kann nicht wahr sein. Wer würde das Kapitol verlassen, um hierherzukommen und gejagt zu werden?
    Der Truck schiebt sich langsam vor. Ein Suchscheinwerfer leuchtet in den Raum. Sie rührt sich nicht.
    Der Lichtstrahl trifft eine dreieckige Scherbe, und für eine Sekunde starrt sie in ihre eigenen Augen, mandelförmig wie die ihrer japanischen Mutter, so wunderschön, so jung. Und die Sommersprossen ihres Vaters auf dem Nasenrücken. Und dann die sichelförmige Brandnarbe um ihr linkes Auge herum.
    Was wird aus Freedle, wenn sie geht? Eines Tages wird er den Geist aufgeben.
    Der Lichtkegel des Suchscheinwerfers gleitet weiter, und der Truck rumpelt vorbei. Auf der Seite steht OSR in fetten Lettern, zusammen mit einer schwarzen Klaue. Pressia ist mucksmäuschenstill, bis der brummende Motor und das Lied aus dem

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