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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
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Körpers, dem seidigen Haar, der Süße ihres Geruchs, der Wärme. Als ihr Vater sie in den Mantel wickelte, fühlte sie sich wie in einem Kokon.
    Darüber denkt sie nach, während sie mit geschickten Fingern Flügel an den Skelettrahmen eines Schmetterlings befestigt. Plötzlich klopft es an der Tür. Es ist ein scharfes Geräusch, ein einzelnes Klopfen mit dem Knöchel. Kein Motorengeräusch von einem Truck der OSR. Wer kann das sein?
    Pressias Großvater schläft tief und fest. Er schnarcht. Sie steht auf und schleicht auf Zehenspitzen zum Tisch, was gar nicht so einfach ist in holländischen Clogs – hatten die Holländer etwa nie einen Grund, auf Zehenspitzen zu schleichen? Sie packt ihren Großvater an den Schultern und schüttelt ihn. »Jemand ist an der Tür!«, flüstert sie drängend.
    Er schreckt genau in dem Moment hoch, als ein zweites Klopfen durch den kleinen Raum hallt.
    »Los, in den Schrank!«, sagt er. Sie haben ausgemacht, dass sie sich dort versteckt, wenn jemand kommt. Wenn er mit seinem Stock klopft und ein Codewort sagt, Rasieren und Haareschneiden, bitte, was wohl irgendwas mit Friseurläden zu tun hat, soll sie durch das getarnte Paneel auf der Rückseite flüchten.
    Sie geht hastig zum Schrank und klettert hinein. Sie lässt die Tür einen winzigen Spaltbreit offen, sodass sie sehen kann, was im Zimmer passiert.
    Ihr Großvater humpelt zur Tür und späht durch ein kleines Loch, das er in das Holz gebohrt hat. »Wer ist da?«, fragt er.
    Pressia hört eine Stimme auf der anderen Seite, eine Frauenstimme. Sie kann nicht verstehen, was sie sagt, doch es scheint ihren Großvater irgendwie zu beschwichtigen. Er öffnet die Tür, und die Frau kommt rasch herein, atemlos. Er schließt hinter ihr die Tür.
    Pressia sieht die Frau in kleinen Häppchen – den Rost auf den Zahnrädern in ihrer Wange, ein Stück glänzendes Blech über einem ihrer Augen. Sie ist dünn und klein und hat eckige Schultern. Sie hält einen blutigen Lappen gegen ihren Ellbogen. »Kesseltreiben!«, berichtet sie Pressias Großvater. »Unangekündigt! Wir hatten erst vor einem Monat eins! Fast hätten sie mich erwischt!«
    Ein Kesseltreiben? Das ergibt keinen Sinn. Die OSR kündigt so was vorher an. Sie lässt ihre Soldaten vierundzwanzig Stunden lang Stämme bilden, damit sie Menschen jagen und töten und zu einem markierten Feld im Gebiet des Gegners tragen können. Jeder Tote gibt Punkte, und wer die meisten Punkte hat, gewinnt. Die OSR sieht es als Methode, um die Schwachen aus der Bevölkerung auszusondern. Sie veranstalten etwa zweimal im Jahr ihr vorher angekündigtes Kesseltreiben, doch das letzte ist gerade erst vorbei. Es war zu der Zeit, als Pressias Großvater beschloss, die Schränke auszuschlachten und das falsche Paneel einzusetzen – denn die Geräusche seiner Arbeit waren in dem allgemeinen wilden, stampfenden Durcheinander nicht zu hören. Es hat noch nie zwei Kesseltreiben so dicht nacheinander gegeben, und vor allem noch niemals ohne Vorankündigung. Vermutlich ist die Frau übergeschnappt, denkt Pressia, oder sie hat einen Schock.
    »Bist du sicher? Ein Kesseltreiben?«, fragt Pressias Großvater in diesem Moment. »Ich hab überhaupt keine Sprechgesänge gehört.«
    »Woher sonst habe ich diese Wunde hier? Es war draußen, hinter den Trümmerfeldern, Richtung Westen und in vollem Gang. Ich bin hierhergerannt statt nach Hause.« Die Frau ist gekommen, um sich nähen zu lassen, aber es ist so lange her, dass Pressias Großvater jemanden genäht hat, dass er erst mal sein Besteck am Ende des Schranks suchen und es abstauben muss.
    »Mein Gott, was für ein Tag«, sagt die Frau. »Zuerst all die Gerüchte, dann das Kesseltreiben!« Sie setzt sich an den Tisch und betrachtet Pressias Tierchen. Ihr Blick fällt auf das Bild, und sie streicht behutsam mit einem Finger darüber. Pressia ärgert sich, dass sie es dort liegen gelassen hat. »Du hast die neuesten Gerüchte sicher schon gehört, oder?«
    »Nicht dass ich wüsste. Ich war heute noch nicht draußen.« Großvater setzt sich der Frau gegenüber und untersucht die klaffende Wunde.
    »Du weißt noch gar nichts?«
    Pressias Großvater schüttelt den Kopf und macht sich daran, seine Instrumente mit Alkohol abzureiben. Das Zimmer füllt sich mit dem antiseptischen Geruch.
    »Ein Reiner«, sagt sie mit gesenkter Stimme. »Ein Junge ohne Narben, ohne Verschmelzungen, ohne Wunden. Es heißt, er wäre ausgewachsen, dieser Junge – groß und schlank und

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