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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
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weiß, dass sie aus der Therapie zurückgekehrt sind, trugen anfangs Perücken. Ihre Gesichter, wie Masken aus Angst vor einem Rückfall, und der falsche Glanz ihrer Haare ließen sie fremd aussehen, anders – ein Grund mehr, sich vor ihnen zu fürchten. Lyda trägt einen weißen Schal um den Kopf – passend zu dem dünnen weißen Overall in Einheitsgröße, in den man sie gesteckt hat und der an ihr herabhängt wie ein Sack. Der Schal ist im Genick zusammengeknotet, und wo der Knoten ist, juckt es. Sie schiebt den Finger unter den Knoten und kratzt sich.
    Sie denkt an Partridge, ihre Hand in seiner, als sie nebeneinander durch den Korridor zum Ball zurückgegangen sind. Er taucht manchmal so unversehens in ihrer Erinnerung auf, dass sich ihr Magen zusammenzieht. Wegen ihm ist sie hier. Jede einzelne Frage, die man ihr gestellt hat, bezieht sich auf jene Nacht. Die Wahrheit ist, dass sie ihn kaum kennt. Sie sagt es wieder und wieder, doch niemand glaubt ihr. Sie sagt es jetzt, in die Stille ihrer Gummizelle hinein. Ich kenne ihn kaum. Nicht einmal sie selbst glaubt sich. Lebt er noch? Sie ist überzeugt, dass ihr Körper irgendwie spüren würde, wenn er tot wäre, tief im Innern.
    Um drei Uhr ertönt ein Klopfen, und bevor sie antworten kann, öffnet sich die Tür. Das Team kommt herein – zwei Ärztinnen und ihre Mutter. Sie sieht ihre Mutter an, erwartet ein Zeichen, ein Nicken, doch das Gesicht ihrer Mutter ist reglos wie das Absetzbecken der Akademie. Sie sieht durch Lyda hindurch, dann gleitet ihr Blick auf die Wand neben ihr, geht zu Boden, zum Waschbecken und wieder zur Wand.
    »Wie fühlst du dich?«, fragt die größere, schlankere der beiden Ärztinnen.
    »Prima«, antwortet Lyda. »Das Fenster ist hübsch.«
    Ihre Mutter zuckt kaum merklich zusammen.
    »Es gefällt dir?«, fragt die Ärztin. »Es war eine wichtige Verbesserung für uns.«
    »Wir werden dir jetzt noch einmal eine Reihe von kurzen Fragen stellen«, beginnt die andere Ärztin. Sie ist untersetzt und spricht abgehackt. »Wir wurden angewiesen, die Art deiner Beziehung zu Ripkard Willux zu untersuchen.«
    »Deines Freundes Partridge«, fügt die zweite, schlanke Ärztin hinzu, als würde Lyda den Namen nicht erkennen.
    »Lediglich ein paar Fragen«, sagt ihre Mutter. »Wir machen es kurz.« Will sie Lyda damit sagen, dass sie ihre Antworten ebenfalls kurz halten soll?
    »Ich weiß nicht, wo Partridge ist«, sagt Lyda. »Das habe ich allen gesagt, immer wieder.« Es hat schon mehrere Verhöre gegeben, jedes einzelne ein bisschen feindseliger als das vorhergehende.
    »Ellery Willux ist, wie du dir denken kannst, sehr an der Antwort interessiert«, sagt die schlanke Ärztin. Allein der Name lässt sie erschauern, das sieht Lyda ihr an. »Wir sprechen hier von seinem Sohn.«
    »Du könntest uns dabei behilflich sein, ihn zu finden«, fügt ihre Mutter heiter hinzu, als könnten ihre Worte die Familie erlösen.
    Das Bild im falschen Fenster flackert erneut, als würden Flügel … oder hat das Programm einen Fehler? Hakt es? Du könntest uns dabei behilflich sein, ihn zu finden. Ist er verschwunden? Ist er weg? Wie einer der Volieren-Vögel? Wie der Drahtvogel, der jetzt vielleicht in der Gründerhalle ausgestellt wird, anstelle von antiken Eieruhren, Schürzen und Messern. Oder wurde ihr Vogel disqualifiziert, weil sie nicht länger Schülerin der Akademie ist?
    »Du hast ausgesagt, du hättest ihn durch die Ausstellung des Häuslichen Lebens geführt, genau so, wie du eine Besuchergruppe geführt hättest – ist das richtig?«, fragt die gedrungene Ärztin.
    »Ist das wirklich genau so gewesen? Ein Junge und ein Mädchen in einem dunklen Saal, die sich vom Ball weggeschlichen haben?«, fügt die schlanke Ärztin hinzu. »Wir waren schließlich alle mal jung.« Sie zwinkert.
    Lyda antwortet nicht. Sie hat gelernt, auf Fragen mit Gegenfragen zu reagieren. »Was wollen Sie damit sagen?«
    »Hat er dich geküsst?«, fragt die schlanke Ärztin.
    Lyda spürt, wie sie errötet. Er hat sie nicht geküsst. Sie hat ihn geküsst.
    »Habt ihr euch umarmt?«
    Sie erinnert sich an seine Hand auf ihrer Taille, das kitzelnde Gefühl, als sie über den dünnen Stoff nach oben glitt. Sie haben zwei Lieder lang miteinander getanzt. Es gibt mehr als genug Zeugen. Mr Glassings und Mrs Pearl waren als Aufsichtspersonen zugegen. Partridge hat den Kopf nach vorn gebeugt beim Tanzen, und sie hat seinen Atem an ihrem Hals gespürt. Er hatte ein Messer im Gürtel,

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