Memento - Die Überlebenden (German Edition)
versteckt unter seiner Jacke. Ja. Der Kuss? Haben andere sie dabei gesehen? Sie haben Händchen gehalten auf dem Weg zum Wohnheim. Viele Leute haben sie gesehen. Hat jemand aus dem Fenster geschaut? Waren noch andere Paare draußen unterwegs?
»Ob du ihn nun gemocht hast oder nicht«, sagt die gedrungene Ärztin. »Meinst du, er hat möglicherweise tiefere Gefühle für dich gehabt?«
Lydas Augen füllen sich mit Tränen. Nein, denkt sie. Nein, er hatte keine Gefühle für mich. Ich war nichts weiter als eine passende Verabredung. Er war von Anfang an abweisend. Er war nur später freundlich, weil sie ihn erwischt und den Mund gehalten hatte. Sie weiß nicht, was er mit dem Messer vorhatte. Niemand will ihr etwas sagen. Und er hat mit ihr getanzt, weil er normal wirken wollte, sich einfügen, keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ob sie befürchten, dass er tot ist? Ob sie glauben, er hätte sich davongemacht und selbst getötet, wie sein Bruder? Sie sieht ihre Mutter an, flehend: Was soll ich nur tun?
»Hat er dich geliebt?«, wiederholt die schlanke Ärztin ihre Frage.
Lydas Mutter nickt. Es ist eigentlich gar kein Nicken, eher ein winziges Zucken, als würde sie versuchen, ein Husten zu unterdrücken. Lyda wischt sich die Augen. Ihre Mutter bedeutet ihr, dass sie die Frage bejahen soll, dass sie sagen soll, Partridge habe sie geliebt. Wird sie das irgendwie wertvoller wirken lassen? Wenn sie überhaupt irgendeinen Wert hat, dann nur, wenn er noch am Leben ist. Wenn sie denken, dass er sie liebt, dann werden sie Lyda vielleicht benutzen, als Botin, als Mittlerin … oder als Köder?
Sie packt ihre Knie, den Stoff ihres Overalls, und zieht ihn glatt. »Ja«, sagt sie und schlägt den Blick nieder. »Er hat mich geliebt.« Für einen Moment tut sie, als wäre es die Wahrheit, wiederholt ihre Worte, lauter. »Er hat es jedenfalls gesagt. Er hat gesagt, dass er mich liebt.«
Das Fenster flackert erneut. Oder ist es ihre Einbildung?
PRESSIA
Schuh
Um zu Bradwells Haus zu gelangen, überquert Pressia die Straße und rennt die Gasse hinunter, die parallel zum Markt verläuft. In der Ferne hört sie die Sprechgesänge des Kesseltreibens. Manchmal redet sie sich ein, dass die Gesänge zu einer Hochzeitsfeier gehören. Warum nicht? Das Singen hebt und senkt sich und klingt ganz wie eine Feier – warum keine Liebesfeier? Ihr Großvater hat ihr von der Hochzeit ihrer Eltern erzählt – weiße Zelte, weiße Tischdecken, ein Kuchen mit mehreren Stockwerken.
Doch daran darf sie jetzt nicht denken. Sie versucht abzuschätzen, wo das Kesseltreiben stattfindet – es muss draußen in den Meltlands sein, dort, wo früher einmal die bewachten Wohnanlagen standen. Sie kennt Leute, die dort aufgewachsen sind. Sie hat Erinnerungen davon gehört – identische Häuser, tickende Sprinkler, bunte Plastikspielsachen in den Gärten. Das ist der Grund, warum die Gegend Meltlands genannt wird – jeder Garten ist getüpfelt mit Plastikflecken, die mal eine Rutsche, eine Schaukel, ein wie eine Schildkröte geformter Sandkasten mit Deckel waren.
Sie versucht am Gesang zu erkennen, welche Gruppe am Werk ist. Einige sind brutaler als andere, unbändiger – aber sie hat nie wirklich gelernt, sie zu unterscheiden. Ihr Großvater nennt es Vogelrufe, angeblich soll sich jeder vom anderen unterscheiden. Sie weiß nicht einmal, ob die Gesänge gerade erst angefangen haben oder sich im letzten Feld des Gegners dem Ende nähern. Gott sei Dank sind sie im Süden der Meltlands, nicht in der Richtung, in die sie unterwegs ist. Vielleicht sind sie sogar noch weiter weg, jetzt, wo sie genauer hinhört. Vielleicht draußen bei den Gefängnissen, Krankenheimen, Asylen mit ihren versengten Strukturen aus Stahl, zerbröckelndem Stein und den Umrandungen aus Stacheldraht. Die Kinder haben ein Lied über die Gefängnisse:
Die Totenhäuser sind gefallen
Die Totenhäuser sind gefallen
Die kranken Seelen wandern rund und rund,
Pass auf, sie zieh’n dich in den Untergrund!
Sie hat die zusammengestürzten Bauwerke nie selbst gesehen. Sie war noch nie so weit draußen.
Niemand ist unterwegs. Es ist kalt und feucht und dunkel. Sie zieht den dicken Pullover enger um den Hals, klemmt die sockenbedeckte Puppenfaust unter den Arm und eilt weiter zur nächsten Gasse. Sie hat die hohle Glocke immer noch bei sich, in der Tasche ihres Pullovers.
Sie lauscht nach dem Gezeter von Mehrlingen, die das Geräusch der Sprechgesänge übertönen. Irgendetwas
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