Memento - Die Überlebenden (German Edition)
bringt sie dazu, sich nachts auf den Straßen herumzutreiben, vielleicht, weil sie nie voneinander wegkönnen. Manche Mehrlinge jagen andere Menschen und rauben sie aus – nicht, dass Pressia und ihr Großvater je eine lohnende Beute gewesen wären. Sie lauscht außerdem auf das Motorengeräusch von OSR-Trucks. Sie sind der Grund, warum Pressia durch die schmalen dunklen Gassen läuft anstatt auf den breiten Straßen.
Sie betritt eine weitere Gasse, und weil sie voll ist mit Adrenalin, fängt sie unwillkürlich an zu laufen. Die Straßen sind so still und verlassen, dass sie die Einsamkeit mit dem Geräusch des Herzschlags in ihren Ohren übertönen will. Sie biegt ab und hört einen Motor. Sie weicht zurück und rennt in die entgegengesetzte Richtung, weg vom Gesang. Sie huscht von einer Gasse zur nächsten und zur übernächsten – zweimal erhascht sie einen kurzen Blick auf einen Truck und muss die Richtung wechseln.
Bei den Trümmerfeldern angekommen, wartet sie in der Deckung eines halb verfallenen Backsteinhauses, bis sie wieder zu Atem gekommen ist. Sie muss sich entscheiden, ob sie die Trümmerfelder umgehen will, was mindestens eine zusätzliche Stunde kostet, oder mitten hindurch. Die Trümmerfelder sind das einstige Stadtzentrum, dicht gepackt mit hohen Gebäuden, voller Trucks und Limousinen, mit einem U-Bahn-System und Menschenmassen auf den Gehwegen.
Heute gibt es nur noch Schutthaufen. Pressia sieht hier und dort Rauchwölkchen aufsteigen. Die Bestien haben in ihren Höhlen Feuer gemacht, um nicht zu frieren.
Sie hat nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken, was sie als Nächstes tun soll, denn in diesem Moment donnert ein Truck der OSR die Straße herauf und hält vor dem Gebäude, das ihr am nächsten steht. Sie schiebt sich um eine Ecke und drückt sich mit dem Rücken dicht an die Hauswand.
Die Beifahrertür fliegt auf. Ein Mann in grüner OSR-Uniform springt heraus. Er hat einen Fuß verloren – das Hosenbein hat unten eine Manschette. Statt eines Knies ist da der Hals eines Hundes mitsamt Schädel, hervorstehenden Augen, Kiefer, Zähnen. Ist das Bein des Mannes Teil der Wirbelsäule des Hundes? Unmöglich zu sagen. Der Hund hat keinen Schwanz, und ein Hinterbein fehlt, aber er hat die Rolle des Fußes übernommen. Sie bewegen sich mit schnellem, unregelmäßigem Humpeln. Der Mann geht nach hinten und öffnet die Tür. Zwei weitere Soldaten in grünen OSR-Uniformen mit schwarzen Stiefeln springen auf die Straße. Sie sind mit Gewehren bewaffnet.
»Das ist der letzte Halt!«, ruft der Fahrer. Pressia kann sein Gesicht hinter der Scheibe nicht erkennen, doch es sieht so aus, als wären zwei Männer dadrin – ein Kopf nah beim anderen, oder vielleicht auch dahinter. Ist der Fahrer etwa ein Mehrling? Sie hört eine zweite Stimme wie ein Echo: »… letzte Halt!« War das der zweite Kopf?
Ihr Herz schlägt wie verrückt. Sie kann kaum noch atmen.
Die drei Männer stürmen in das Gebäude. »OSR!«, brüllt einer von ihnen. Dann hört sie ihre Stiefel durch das Haus trampeln.
Der Fahrer des Trucks dreht das Radio auf, und sie fragt sich, ob es der gleiche Truck ist, der ein paar Stunden zuvor in ihrer Gasse war.
Ein Stück weit die Straße hinunter werden plötzlich Stimmen laut. Eine Gestalt mit einer Kapuzenjacke taucht auf, das Gesicht mit einem Schal verhüllt. Es ist zu dunkel, als dass Pressia mehr erkennen könnte. »Aufhören!«, ruft die Gestalt. »Lasst mich in Ruhe!« Es ist eine Jungenstimme, gedämpft vom Schal. Er ist älter als sechzehn, wie es aussieht. Die OSR wird ihn mitnehmen, wenn sie ihn zu Gesicht bekommt.
Dann sieht sie die Mehrlinge aus einer Seitenstraße auftauchen. Was früher einmal sieben oder acht Menschen waren, ist zu einem einzigen massiven Körper verschmolzen, einem Gewirr aus Armen und Beinen und ein paar chromschimmernden Stellen, mit niederträchtigen Blicken in den Gesichtern voller Brandnarben, Drähten, manchmal verschmolzen. Sie sind betrunken – das kann Pressia an der Art und Weise erkennen, wie sie herumtorkeln und an den lallenden Flüchen.
Der Soldat am Steuer des Trucks wirft einen Blick in den Rückspiegel, dann zieht er leidenschaftslos ein Taschenmesser hervor und fängt an, sich seine Fingernägel sauber zu machen.
»Gib uns, was du da hast!«, sagt einer der Mehrlinge zu dem Jungen.
»Los, gib es her!«, sagt ein anderer.
»Ich kann nicht«, antwortet die Stimme unter dem Schal. »Außerdem – es ist nichts. Es ist ohne
Weitere Kostenlose Bücher