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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
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Die Sterne sehen aus wie kleine helle Einstiche – fast nicht zu erkennen in der dunklen, stauberfüllten Luft –, doch es sind keine Einstiche. Es ist nicht die Decke der Cafeteria, geschmückt für einen Ball. Der Himmel über ihm ist endlos. Er ist nicht abgeschlossen.
    Zuhause? Kindheit?
    Nein.
    Zuhause war ein großer, luftiger Raum. Hohe Decken. Weiß auf weiß. Irgendwo in irgendeinem Zimmer war ständig ein Staubsauger zugange. Eine Frau in Jogginghose schob ihn auf den Teppichen hin und her. Nicht seine Mutter, nein. Doch seine Mutter war immer in der Nähe. Sie ging auf und ab. Fuchtelte mit den Händen beim Reden. Starrte aus den Fenstern. Schimpfte. Fluchte. »Sag es nicht deinem Vater«, befahl sie ihm. »Vergiss nicht – das hier bleibt unter uns. Ein Geheimnis.« Es gab Geheimnisse hinter Geheimnissen. »Ich erzähle dir die Geschichte noch mal«, sagte sie.
    Es war immer die gleiche Geschichte. Die Schwanenfrau. Bevor sie zur Frau wurde, war sie ein Schwanenmädchen, das einen jungen Mann vor dem Ertrinken rettete. Er war der junge Prinz. Ein böser Prinz. Er stahl ihre Flügel und zwang sie, ihn zu heiraten. Aus dem bösen Prinzen wurde ein böser König.
    Warum war er böse?
    Der König dachte, er wäre gut, doch er irrte sich.
    Es gab auch einen guten Prinzen. Er lebte in einem anderen Land. Die Schwanenfrau wusste nicht, dass es ihn überhaupt gab.
    Der böse König zeugte zwei Söhne mit ihr.
    War einer gut und einer böse?
    Nein. Sie waren nur verschieden. Einer war wie der Vater, ehrgeizig und kraftvoll. Der andere war wie sie.
    Wie sie? Wie war sie?
    Ich weiß nicht wie. Hör einfach zu. Das ist wichtig.
    Hatte der Junge – der wie sie war –, hatte er Flügel?
    Nein. Aber der böse König hatte ihre Flügel in einen Eimer getan und den Eimer in einem dunklen, ausgetrockneten Brunnen versenkt. Der Junge, der wie die Schwanenfrau war, hörte es rascheln in diesem Brunnen, und eines Nachts kletterte er hinunter und fand die Flügel seiner Mutter. Sie streifte sie über, und sie nahm den Jungen, der wie sie war, der sich nicht zur Wehr setzte, und flog mit ihm davon.
    Partridge erinnert sich, wie seine Mutter diese Geschichte am Strand erzählt hat. Sie hatte ein Handtuch um die Schultern. Es flatterte auf ihrem Rücken wie Flügel.
    Der Strand war dort, wo sie ihr zweites Haus hatten. Wo sie auf dem Foto zu sehen sind, das Partridge im Archiv gefunden hat. Sie gingen nie zum Strand, wenn es kalt war, mit dieser einen Ausnahme. Die Sonne muss warm gewesen sein, weil er sich an einen Sonnenbrand erinnert und an gesprungene Lippen. Sie hatten eine Grippe. Keine ansteckende, mit der sie in eine Anstalt gemusst hätten, nur eine Magen-Darm-Geschichte. Seine Mutter nahm eine blaue Decke aus dem Schrank und wickelte ihn darin ein. Sie war ebenfalls krank. Sie schliefen beide auf den Sofas und übergaben sich in kleine weiße Plastikeimer. Sie legte ihm einen nassen Lappen auf die Stirn. Und sie erzählte von der Schwanenfrau und dem Jungen und dem neuen Land, wo sie den guten König fanden.
    Ist Vater der böse König?
    Es ist nur eine Geschichte. Aber hör zu – versprich mir, dass du sie nicht vergisst. Und erzähle die Geschichte nicht deinem Vater. Er mag keine Geschichten.
    Partridge kann den Kopf nicht heben. Er fühlt sich an wie am Boden festgenagelt, und wirre Erinnerungen huschen durch sein Bewusstsein. Dann hört es auf. Sein Kopf brummt, ein kalter, heller Schmerz am Hinterkopf. Sein Herz hämmert so laut in seinen Ohren wie die automatischen Drescher bei der Arbeit auf den Feldern hinter der Akademie. Er hat die Drescher immer aus dem Fenster am Ende des Ganges auf seiner Etage des Wohnheims beobachtet, wenn Hastings am Wochenende zu Hause bei seinen Eltern war. Lyda – ist sie jetzt da? Hört sie die Dreschmaschinen? Erinnert sie sich an den Kuss, den sie ihm gegeben hat? Er erinnert sich deutlich. Sie hat ihn überrascht. Er hat den Kuss erwidert, und dann hat sie sich verlegen von ihm gelöst.
    Wind ist auf seiner Haut. Echter Wind. Echte Luft. Sie streicht über seinen Kopf, zupft an seinen Haaren. Sie wirbelt umher, als wäre sie von riesigen unsichtbaren Ventilatorflügeln aufgepeitscht. Er denkt an Ventilatorflügel – glänzende, schnelle Ventilatorflügel mit messerscharfen Kanten. Wie ist er hierhergekommen?

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