Memento - Die Überlebenden (German Edition)
den Bradwell offensichtlich immer wieder reinstopft, der aber ständig rausquillt. Zusammengeschoben sind sie bestimmt sein Bett. Er hat einen kleinen Vorrat Konservenfleisch, das er auf dem Markt erstanden hat, und Wildbeeren, die an den Dornensträuchern in den Wäldern wachsen. Pressia fragt sich, ob sie ihn auf dem falschen Fuß erwischt hat, weil sie einfach so aufgetaucht ist. Er räumt hastig auf, stellt eine Pfanne weg, schiebt ein zweites Paar Stiefel unter einen der Sessel. Ist er verlegen? Nervös?
Sie sieht die Truhe an einer der Wände stehen.
Sie würde sie am liebsten öffnen und den Inhalt durchwühlen. Auf der Truhe steht ein Handbuch über das Schlachten und Ausnehmen von Tieren und die Verarbeitung und Konservierung von Fleisch jeglicher Art.
»Da wären wir«, sagt Bradwell. »Willkommen in meinem Zuhause.« Er hat immer noch keinen genaueren Blick auf Partridge geworfen. Er weiß nicht, dass Partridge ein Reiner ist – aus Fleisch und Blut. Partridge hat seine Kapuze übergestreift und den Schal vor dem Gesicht. Er hat seine Tasche fest an sich gedrückt, verborgen unter der Jacke, wie Pressia es ihm geraten hat. Pressia ist jetzt nervös. Sie erinnert sich an Bradwells Worte, wie sehr er die Menschen im Kapitol hasst. Sie ist unsicher, ob es die richtige Entscheidung war. Wie wird Bradwell reagieren? Allmählich begreift sie, dass er Partridge als Feind betrachten könnte. Was dann?
Bradwell zieht die beiden Lehnstühle auseinander. »Setzt euch«, sagt er zu Pressia und Partridge.
Sie setzen sich auf die bröckeligen Polster.
Bradwell zieht die Truhe heran und nimmt darauf Platz. Pressia sieht die Vogelflügel sein Hemd kräuseln. Sie fühlt mit ihm. Die Vögel gehören zu ihm, genauso, wie der Puppenkopf ein Teil von ihr geworden ist. Sie bleiben sein ganzes Leben lang bei ihm. Sie leben so lange wie er selbst. Wenn sich einer am Flügel verletzt – spürt er das? Einmal, als sie zwölf Jahre alt war, hat sie versucht, sich den Puppenkopf abzuschneiden. Sie dachte, sie könnte sich von diesem Ding befreien. Der Schmerz war scharf – im ersten Moment. Als die Rasierklinge tief eindrang an der Stelle, wo der Hals der Puppe in ihren Arm überging, tat es nicht mehr so weh. Doch das Blut floss in hellen Strömen und mit solcher Macht, dass sie Angst bekam. Sie presste ein Tuch auf die Wunde, doch es wurde schnell rot. Sie musste es ihrem Großvater sagen. Er arbeitete schnell – sein Geschick als Leichenbestatter kam ihm gelegen. Die Stiche waren gleichmäßig und die Narbe klein.
Pressia lehnt sich zurück, und obwohl die Socke den Puppenkopf verbirgt, zupft sie am Ärmel ihres Pullovers, um ganz sicher zu sein. Der Reine würde den Kopf grotesk finden und vielleicht als Schwäche erachten. Was würde Bradwell denken?
Sie wirft einen schnellen Blick zu Partridge und weiß, dass er das Flattern unter Bradwells Hemd ebenfalls bemerkt hat, doch er sagt kein Wort. Wahrscheinlich ist er geschockt. Ihm muss alles fremd sein. Sie hat jahrelang Zeit gehabt, um sich daran zu gewöhnen. Er hat höchstens ein paar Tage gehabt.
»Und wirst du mir jetzt verraten, wer das ist?«, will Bradwell in diesem Moment wissen.
»Das ist Partridge«, sagt sie und an Partridge gewandt: »Nimm die Kapuze und den Schal ab.«
Er zögert.
»Es ist okay. Bradwell ist auf unserer Seite.« Ist er das wirklich?, fragt sie sich. Indem sie es laut ausspricht, hofft sie, Bradwell zu überzeugen, dass es so ist.
Partridge schiebt seine Kapuze in den Nacken und wickelt den Schal ab.
Bradwell starrt in sein Gesicht, das zwar rußverschmiert ist, doch ansonsten vollkommen makellos. »Die Arme«, sagt Bradwell. Sein Gesicht ist ruhig, mit Ausnahme der Augen. Sie ruhen auf Partridge, als würde er mit einer Waffe auf ihn zielen. »Ich will deine Arme sehen.«
Partridge rollt die Ärmel hoch, und noch mehr perfekte Haut kommt zum Vorschein. Es hat etwas Beunruhigendes. Pressia ist nicht sicher, was es ist, doch sie verspürt eine Art Abscheu. Ist es Eifersucht? Ist es Hass? Verabscheut sie Partridge wegen seiner makellosen Haut? Sie ist zugleich wunderschön – das lässt sich nicht bestreiten. Wie Sahne, so weiß.
Bradwell nickt in Richtung der Beine.
Partridge bückt sich und zieht zuerst ein Hosenbein, dann das andere nach oben. Bradwell steht auf und verschränkt die Arme vor der Brust. Er reibt aufgeregt über die Brandnarbe an seinem Hals und läuft im Kühlraum auf und ab, wobei er den Haken mit
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