Memento - Die Überlebenden (German Edition)
anders.«
Diese Erinnerung ist so offen und aufrichtig, dass Pressia ganz verlegen wird, weil sie das Spiel nicht ehrlich gespielt hat. Sie versucht es erneut. »Meine Eltern hatten ein Pony gemietet für meine Geburtstagsparty, als ich klein war.«
»Damit die Kinder darauf reiten konnten?«
»Vermutlich.«
»Das ist nett. Ein Pony. Du mochtest Ponys?«
»Ich weiß es nicht.«
Sie fragt sich, ob das Spiel etwas genützt hat. Ob er ihr jetzt mehr vertraut, nachdem sie ihm eine Erinnerung überreicht hat und er das Gleiche getan hat. Sie beschließt, es zu prüfen. »Vorhin, bei dem Dust, den du getötet hast, als du ihn aus dem Loch gezerrt und umgedreht hast – das kam mir irgendwie nicht normal vor«, sagt sie. Sie wartet darauf, dass er eine Erklärung abliefert. Er senkt das Kinn auf die Brust und antwortet nicht. »Bei den Mehrlingen genauso, als du gerannt bist … es kam mir schneller vor, als irgendein Mensch laufen kann …«
Er schüttelt den Kopf. »Das ist die Akademie«, sagt er. »Ich habe ein besonderes Training bekommen. Das ist alles.«
»Training?«
»Na ja, eine Codierung. Ich habe nicht besonders gut darauf angesprochen, schätze ich. Ich bin kein gutes Exemplar, wie sich herausgestellt hat.« Er scheint nicht darüber sprechen zu wollen, und sie will nicht drängen. Sie lässt die Unterhaltung stocken. Sie gehen schweigend weiter.
Schließlich erreichen sie eine eingefallene Ladenfront.
»Hier ist es«, sagt sie.
»Hier ist was?«, fragt Partridge.
Sie führt ihn um einen Schutthaufen herum zu einer breiten Hintertür aus Metall. »Bradwells Unterschlupf«, flüstert sie. »Ich sollte dich warnen – er ist verschmolzen.«
»Inwiefern?«
»Vögel«, sagt sie.
»Vögel?«
»Im Rücken.«
Er starrt sie verblüfft an, und es gefällt ihr, dass sie ihn verunsichert hat.
Sie klopft gemäß den Anweisungen auf dem Blatt, das Bradwell ihr gegeben hat: einmal laut, zweimal leise, eine Pause und noch mal laut. Sie hört Geräusche aus dem Innern, und dann klopft jemand auf der anderen Seite im gleichen Rhythmus wie sie vorher – leise, hohl klingende Gongs.
»Er wohnt hier?«, fragt Partridge. »Wie kann man hier wohnen?«
Sie klopft zweimal. »Warte dort drüben. Ich will nicht, dass du ihn verscheuchst.« Sie deutet auf eine Wand, die im Schatten liegt.
»Ist er leicht zu verscheuchen?«
»Geh einfach.«
Partridge zieht sich in den Schatten zurück.
Ein kratzendes Geräusch ertönt: Bradwell entriegelt die Tür. Sie öffnet sich einen Spaltbreit. »Hey – es ist mitten in der Nacht!«, flüstert er mit einer Stimme, die so rau klingt, dass sie sich fragt, ob sie ihn aus dem Schlaf gerissen hat. »Wer bist du? Was zur Hölle willst du?«
»Ich bin’s, Pressia.«
Die Tür öffnet sich ein Stück weiter. Bradwell ist größer und breiter, als sie ihn in Erinnerung hat. Ein Überlebender sollte eigentlich drahtig und klein sein, sich leicht verstecken können, und hager, weil es wenig zu essen gibt. Anders Bradwell – er wurde muskulös. Sie sieht die doppelte Narbe auf seiner Wange, die Verbrennungen, doch es sind die Augen, die sie am meisten fesseln. Sie zögert. Es sind dunkle, harte Augen, doch als sie Pressias Gesicht betrachten, scheinen sie weicher zu werden – als wäre Bradwell zu mehr Zärtlichkeit imstande, als sie gedacht hat. »Pressia?«, fragt er. »Ich dachte, du wolltest mich nie wiedersehen?«
Sie wendet die verbrannte Wange von ihm ab und spürt, wie sie errötet – warum ist sie verlegen? Wieso? Sie hört ein Flattern hinter ihm – die Flügel der Vögel in seinem Rücken.
»Warum bist du hier?«
»Ich wollte mich für das Geschenk bedanken.«
»Jetzt?«
»Nein«, sagt sie. »Deshalb bin ich nicht gekommen. Ich dachte nur, ich sage es jetzt, wo du hier bist. Ich meine, wo ich hier bin.« Sie stammelt. Sie wünschte, sie könnte damit aufhören. »Ich … ich hab jemanden mitgebracht. Es ist dringend.«
»Wen?«
»Jemanden, der Hilfe braucht. Ich brauche keine Hilfe«, fügt sie hastig hinzu. »Es ist jemand anders. Er braucht Hilfe.« Wäre sie nicht zufällig dem Reinen über den Weg gelaufen, stünde sie jetzt hier vor Bradwells Tür und würde ihn anbetteln, sie zu retten. Ihr wird klar, wie erleichtert sie ist, dass sie nicht wegen sich selbst zu ihm kommt. Einen Moment lang herrscht Stille. Wird Bradwell sich abwenden? Oder versucht er zu entscheiden, was zu tun ist?
»Was für eine Art von Hilfe?«
»Es ist wichtig, sonst
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