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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
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meine ich. Das begreifen sie nicht im Kapitol.«
    Pressia zögert, dann fragt sie: »Hast du Lust auf eine Runde Ich-erinnere-mich?«
    »Was ist das?«
    »Ihr spielt es nicht im Kapitol?«
    »Ist es ein Spiel?«
    »Es ist das, was es sagt. Wenn du jemanden kennenlernst und ihm näherkommst, fragst du ihn, an was er sich erinnert aus dem Davor. Manchmal ist es überhaupt das Einzige, was man aus jemandem herausbekommen kann, insbesondere aus alten Leuten. Aber sie spielen das Spiel am besten. Mein Großvater zum Beispiel erinnert sich an eine ganze Menge.« Pressias Erinnerungen sind zwar farbenfroh und klar, manchmal sogar fast greifbar – als könnte sie das Davor fühlen –, doch es gelingt ihr einfach nicht, diese Empfindungen richtig in Worte zu fassen. Sie stellt sich vor, das Spiel eines Tages mit ihrer Mutter und ihrem Vater zu spielen. Sie werden die Lücken füllen zwischen dem kleinen Aquarium mit den Fischen, der Quaste an der Handtasche ihrer Mutter, dem Heizgerät, der Parade, der Drahtbürste, dem Geruch von Gras und Seife, dem Mantel ihres Vaters; ihrem Ohr an seiner Brust und ihrer Mutter beim Bürsten von Pressias Haaren oder beim Singen des Schlaflieds aus dem Computer, über das Mädchen auf der Veranda und den Jungen, der sie anfleht, mit ihm zu kommen – hat sie je den Mut aufgebracht mitzugehen? Sie möchte das Spiel mit Partridge spielen. Woran erinnert sich ein Reiner? Sind die Erinnerungen der Reinen klarer, weniger besudelt von der Welt, in der sie leben?
    Er lacht auf. »Man würde uns niemals erlauben, so ein Spiel zu spielen«, sagt er. »Die Vergangenheit ist vergangen. Es wäre unhöflich, sie zum Thema zu machen. Nur kleine Kinder machen so was.« Und dann fügt er hastig hinzu: »Das soll keine Beleidigung sein, okay? Wir sind eben so, das ist alles.«
    Pressia ist trotzdem beleidigt. »Die Vergangenheit ist alles, was wir hier haben«, sagt sie und beschleunigt ihre Schritte ein wenig. Sie denkt an Bradwells Vortrag. Sie wollen uns auslöschen, und mit uns die Vergangenheit. Das dürfen wir nicht zulassen. So funktioniert das Vergessen. Lösch die Vergangenheit aus, sprich niemals darüber.
    Er geht ebenfalls schneller, holt sie wieder ein und packt ihren Ellbogen – den Ellbogen des Arms, der im Puppenkopf mündet. Sie reißt sich los. »Fass nicht immerzu andere Leute an!«, sagt sie. »Was ist denn nur los mit dir?«
    »Ich möchte das Spiel spielen«, sagt er. »Das ist der Grund, aus dem ich hier bin – um etwas über die Vergangenheit herauszufinden.« Er sieht sie geradeheraus an, seine Augen gleiten über ihr Gesicht, huschen zu der Stelle, wo die Verbrennungen anfangen.
    Sie neigt den Kopf nach vorn, sodass ihre Haare die Sicht auf die Narben versperren. »Also das … das ist unhöflich!«
    »Was?«, fragt er.
    »Leute anstarren. Keiner von uns will angestarrt werden.«
    »Ich wollte nicht …«. Er wendet den Blick ab. »Tut mir leid.«
    Pressia antwortet nicht. Es hilft, dass er das Gefühl hat, sie verletzt zu haben und ihr etwas schuldig zu sein, und es ist auch gut, dass er sie als Führerin braucht – nicht nur für die Gegend, sondern auch für den Umgang mit ihresgleichen. Sie bemüht sich nach Kräften, ihn von sich abhängig zu machen.
    Schweigend gehen sie ein Stück weiter. Sie straft ihn, doch dann entscheidet sie, dass sie auch verzeihen muss, und so stellt sie ihm eine Frage, die ihr durch den Kopf gegangen ist. »Okay … Wir haben mal einen neuen Wagen gekauft mit einem riesigen roten Band obendrauf«, fabuliert sie. »Und ich erinnere mich an Micky Maus und seine weißen Handschuhe.«
    »Oh«, sagt er. »Richtig.«
    »Erinnerst du dich an Hunde mit Sonnenbrillen? Sie waren lustig, nicht wahr?«
    »Eigentlich nicht, nein. Ich erinnere mich nicht an Hunde mit Sonnenbrillen«, sagt er. »Überhaupt nicht.«
    »Oh«, sagt sie. »Du bist dran.«
    »Na ja, meine Mutter hat mir immer wieder eine Geschichte über eine Schwanenfrau erzählt. Es gab einen bösen König, der ihr die Flügel gestohlen hatte, und … na ja, ich denke, mein Vater war der böse König.«
    »War er ein böser König?«
    »Es ist ein Märchen, weiter nichts. Sie kamen nicht miteinander zurecht, verstehst du? Es war Kinderlogik. Es ergab keinen Sinn, aber ich mochte die Geschichte. Ich liebte meine Mutter, schätze ich. Sie hätte mir alles erzählen können, und ich hätte sie geliebt. Kinder lieben ihre Eltern, selbst wenn die Eltern das nicht verdienen. Sie können nicht

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