Memento - Die Überlebenden (German Edition)
er.
»Es ist seltsam, ich weiß, aber ich glaube, sie hat die Melodie selbst geschrieben«, sagt Partridge. »Andererseits – wie kommt sie an eine Spieluhr, die ein Lied abspielt, das sie geschrieben hat?«
»Die Schachtel sieht aus wie selbst gemacht«, sagt Pressia. Die Schachtel ist in der Tat sehr einfach und schmucklos. Sie streckt die Hand danach aus. »Lass mal sehen, ja?«
Bradwell reicht ihr die Schachtel. Sie sieht ins Innere und bemerkt die dünnen Metallstifte, die über die kleinen Noppen der Walze streichen. »So was könnte ich auch bauen, wenn ich die richtigen Werkzeuge hätte.« Sie schließt die Spieluhr, öffnet sie, schließt sie wieder, prüft den Stoppmechanismus.
Bradwell nimmt die goldene Halskette und lässt sie über die Finger gleiten. Der Schwan dreht sich. Er scheint aus massivem Gold zu sein. Er hat einen langen Hals und ein übergroßes Auge aus einem Edelstein. Es ist ein hellblauer Stein von der Größe einer Murmel, der von beiden Seiten zu sehen ist. Er ist vollkommen, nicht ein Kratzer, keine Schramme, nichts – er ist rein. Pressia kann den Blick nicht abwenden. Noch nie hat sie irgendetwas gesehen, das die Bombenangriffe unbeschadet überstanden hat – abgesehen von Partridge. Das blaue Auge des Schwans ist hypnotisch.
Schließlich lässt Bradwell die Kette in den Beutel zurückgleiten. Er sieht Pressia an. Sein Gesichtsausdruck wird für einen kurzen Moment weich, als wollte er ihr etwas sagen. Dann versteift er sich wieder. »Ich habe euch zur Lombard Street gebracht. Das ist alles, was ich versprochen habe.« Er steht auf, geduckt, weil die Decke zu niedrig ist. »Die Leute meinen, es ist erstaunlich, dass ich seit meinem neunten Lebensjahr alleine überlebt habe. Die Sache ist die – ich habe überlebt, weil ich alleine war. Wenn man erst anfängt, sich mit anderen Leuten einzulassen, ziehen sie dich runter. Ihr beide müsst euch von jetzt an alleine durchschlagen.«
»Nette Einstellung«, sagt Pressia. »Wirklich großherzig und milde.«
»Wenn du schlau bist, suchst du auch das Weite«, empfiehlt er ihr. »Großherzigkeit und Milde können dich umbringen.«
»Hört mal«, sagt Partridge. »Ich komme zurecht, okay? Ich brauche niemanden, der mir die Hand hält.«
Pressia weiß, dass er allein keine Chance hat. Er muss es auch wissen. Aber was jetzt? Die Luft in dem kleinen Raum verändert sich. Ein bisschen sonnenbeschienene Asche schwebt von oben herab. Sie streift das Gitter oben und sickert in die Krypta. Es ist Morgen, und jetzt ist es auch hell genug, um den Namen auf der Plakette zu erkennen, wenigstens einen Teil: HEILIGE WI…, der Rest ist unleserlich. Die Plakette ist beschädigt, die Buchstaben verschwunden. Unter dem Namen kann sie ein paar weitere Worte entziffern: Geboren in … Ihr Vater war … Schutzheilige … Äbtin … kleine Kinder … drei Wunder … Tuberkulose … Das ist alles.
Sie bemerkt eine kleine getrocknete Blume auf der wachsüberzogenen Kante. Eine Opfergabe? »Ich schätze, wir sind in einer Sackgasse gelandet«, sagt sie.
»Nicht unbedingt. Meine Mutter hat die Bomben überlebt«, sagt Partridge. »So viel weiß ich jetzt.«
»Woher weißt du das?«, will Pressia wissen.
»Die alte Frau hat es gesagt. Du warst dabei«, antwortet Partridge.
»Ich dachte, sie hätte gesagt, dass er ihr das Herz gebrochen hat? Und das bedeutet meiner Meinung nach nicht, dass sie überlebt hat.«
»Er hat ihr das Herz gebrochen, kein Zweifel. Er hat sie hier zurückgelassen. Wäre sie bei den Explosionen gestorben, hätte sie keine Zeit mehr gehabt für ein gebrochenes Herz. Aber sie hatte eins. Er hat ihr das Herz gebrochen, und diese Frau wusste Bescheid. Sie wusste, dass meine Mutter zurückgelassen worden war und dass mein Vater mich und meinen Bruder mitgenommen hatte. Das ist es, was sie damit meinte, er hätte ihr das Herz gebrochen. Sie mag eine Heilige gewesen sein, doch sie starb nicht als Heilige.« Partridge schiebt das Foto zurück in den Umschlag, steckt ihn in den Beutel und packt alles zurück in seinen Rucksack.
»Selbst wenn sie die Bomben überstanden hat, was immer noch ziemlich unwahrscheinlich ist, hat sie möglicherweise nicht das überlebt, was danach kam«, gibt Bradwell zu bedenken. »Nicht viele haben das überlebt.«
»Hört zu, ihr haltet mich vielleicht für dumm, aber ich denke, sie lebt noch«, beharrt Partridge.
»Dein Vater hat dich und deinen Bruder gerettet, aber nicht deine Mutter?«, fragt
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